Das Ist Mein Blut
sie schienen einfach nicht zusammenzupassen.
Eva seufzte und straffte die Schultern. Wenn die bisherigen Informationen keine Erklärung für Kronauers Tod lieferten, lag es wahrscheinlich einfach daran, dass sie noch nicht genügend Informationen hatten. Darum also zurück an die Arbeit und Fakten sammeln. Sie sprach mit den Kollegen durch, was als nächstes getan werden musste, und ging dann auf die Damentoilette, wo sie fünf Minuten lang vor dem Spiegel stand, ohne ihr Gesicht darin wirklich wahrzunehmen.
Rainer saß an seinem Schreibtisch und telefonierte, als sie sein Büro wieder betrat. Er sah nur flüchtig auf und bedeutete ihr, sich zu setzen, ehe er sich wieder konzentriert dem Gespräch widmete. Es war ein ziemlich einseitiges Telefonat, denn Rainers Anteil daran bestand bloß aus gelegentlichen Minimaläußerungen wie »hm, ja« oder »verstehe«. Zuletzt fragte er noch: »Sind Sie ganz sicher?«, dann bedankte er sich und senkte den Hörer. Das Besetztzeichen erklang, doch es dauerte mehrere Sekunden, ehe Rainer ebenfalls auflegte. Danach starrte er immer noch auf den Hörer wie auf ein Ding aus einer fremden Galaxis. Eva räusperte sich, um seine Kontemplation zu unterbrechen: »Neuigkeiten?«
»Dieser Fall wird mir langsam zu verwirrend«, erwiderte er statt einer Antwort.
»Willkommen im Club«, meinte Eva trocken. »Meinst du, mir geht es besser? Aber sitze ich da und jammere?«
»Nein, du trägst Verwirrung und Mühe mit der Abgeklärtheit eines stoischen Philosophen«, deklamierte er salbungsvoll. »Kleinere Geister wie ich können da nur voller Bewunderung zusehen. Vielleicht werde ich mit dir als Vorbild in zehn Jahren ähnliche Höhen der Gelassenheit erklommen haben.«
»Rainer«, entgegnete sie leise, die Fingerspitzen gegeneinander gelegt. »Wenn in den Ruinen von Sablonetum in den nächsten Tagen noch mal eine Leiche gefunden wird, möchtest du wissen, wer dann das Opfer sein wird?«
»Ähm, also, um auf unseren Fall zurückzukommen«, stürzte er sich mit einer nur ein wenig ironisch wirkenden Eilfertigkeit in seinen Bericht, »ich habe ein paar bescheidene Informationen zusammentragen können.« Er wühlte wieder in seinen Zetteln herum, von denen einige mittlerweile ziemlich kaffeefleckig aussahen. »Ad 1: In Niedersachsen haben die Pfingstferien schon am 18. begonnen, Klara Weiß hat ihre Tochter also nicht aus unerfindlichen Gründen eine Woche zu früh mitgenommen. Ad 2: Elisabeth Baarer-Weiher. Sie ist Dozentin für Neuere Geschichte an der Uni und immer noch nicht erreichbar. Wir sollten herausfinden, woher und wie gut sie Kronauer kannte. Ad 3« – Rainer drehte sich zu einem Aktenschrank um, der hinter seinem Schreibtisch stand, und ergriff ein Foto, das in eine Klarsichthülle gepackt war. Er hielt es Eva hin. »Sieh dir das an«, forderte er sie auf.
Sie gehorchte, sah aber gleich wieder verwirrt auf. Das Bild zeigte den Kelch, den sie mittlerweile beide kannten. Es war ein hervorragendes Foto, und es hob die feine Silberarbeit, die Gravur, das zierliche Blätterwerk und die Symbole darauf in ihrer ganzen Kunstfertigkeit hervor, aber es zeigte nichts, was sie nicht schon gesehen hätte.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Das ist der Kelch.«
»Das ist der Kelch«, bestätigte Rainer grimmig. »Aber dieses Foto ist in Kronauers Auto gefunden worden.«
»Donnerwetter«, flüsterte Eva verblüfft. »Das heißt – hat er das Abendmahlszeug selbst gestohlen? Das muss er, oder?«
Ihr Kollege lachte freudlos. »Das habe ich auch gedacht. Aber es haut nicht hin. Der Einbruch war irgendwann in der Nacht von Sonntag zu Montag. Ich habe mittlerweile einen alten Bauern aus Buchfeld ausfindig gemacht, der sich ziemlich sicher ist, dass er gegen elf oder halb zwölf auf der Straße, von der Kirche her, ein Geräusch von zersplitterndem Glas gehört hat. Aber Kronauer hat die Nacht in demselben Gasthaus in Gunzenhausen verbracht, in dem Klara Weiß und ihre Tochter sich aufhalten. Er ist dort ungefähr um zehn Uhr abends eingetroffen und hat sich dann noch mit Klara in der Gaststube zu einem Wein hingesetzt. Hab ich vom Kellner, nicht von der Frau.«
»Wenn sich dein Zeuge täuscht, könnte Kronauer später in der Nacht noch nach Buchfeld gefahren sein«, meinte Eva, aber sie war selbst nicht sehr überzeugt.
»Hab ich mir auch überlegt«, gab Rainer zu. »Es wäre möglich, ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Das Gasthaus hat zwar keinen Nachtportier, der genau sagen
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