Das Jahr auf dem Lande
Christine. »Er läßt sich entschuldigen, Mrs. Holden, und ich soll Ihnen ausrichten, daß er es glücklicherweise nicht nötig hat, an der Abschiedsparty teilzunehmen, weil er ja hierbleiben wird.«
»Natürlich hat er das nicht nötig, aber ich hatte gehofft, er würde trotzdem kommen«, entgegnete die alte Dame störrisch.
Christine wechselte hastig das Thema und fragte, ob Mrs. Holden schon gehört habe, daß die häßliche Müllhalde im Wald verschwunden sei. Sie bezog auch Adrian in das Gespräch ein, weil sie wußte, daß die alte Dame sich lieber mit Männern als mit Frauen unterhielt — mit Männern aller Jahrgänge. Adrian sprang charmant in die Bresche und schilderte auf amüsante Weise, wie schwierig es immer sei, Versammlungen einzuberufen. »Sie haben immer Ausreden — und manchmal sogar gute.«
»Wenn Ihrem Komitee solche Leute angehören wie dieser Ladenbesitzer, dann müssen Sie ja mit Komplikationen rechnen«, meinte Mrs. Holden verächtlich.
Doch das wollte Jo nicht auf ihrem Freund sitzen lassen. »Bruce ist ein netter Kerl. Und er kann nichts dafür, daß er soviel zu tun hat. Er hält den Laden gut in Schuß, und das beweist doch nur, daß ihm die Interessen des Distrikts am Herzen liegen.«
»Er ist wohl eher daran interessiert, möglichst viele Kunden zu gewinnen«, erwiderte Mrs. Holden, und James stellte sich auf die Seite seiner Mutter und sagte, es läge wohl kaum im Interesse des Distrikts, daß Bruce Belton seine Taschen fülle.
»In meiner Jugend«, trompetete die alte Dame erregt, »wäre es meinem Vater nicht im Traum eingefallen, zusammen mit einem Ladenbesitzer ein Komitee zu bilden. Er gehörte überhaupt keinem Komitee an. Er bestimmte, was zu geschehen hatte, und die Farmer richteten sich nach ihm. Das war eine viel bessere Methode.«
»Das war eine Diktatur«, entgegnete Jo, die nun auch wütend geworden war, »und zum Glück ist dieses Zeitalter längst vorbei.«
»Ja, es ist vorbei«, sagte die alte Dame würdevoll. »Seither sind mehr als siebzig Jahre vergangen, aber ich finde nicht, daß wir in dieser Zeit große Fortschritte gemacht haben.«
»Zumindest sind wir demokratischer geworden. Heutzutage ist es verdammt egal, aus welcher Familie ein Mann stammt. Es kommt nur darauf an, was er ist und was er tut.«
»Eine feine Theorie! Ich habe auch eine. Junge Leute sollten sich in Gegenwart älterer Menschen etwas gepflegter ausdrücken.«
Lester versuchte zu vermitteln. »Großmutter, wir sagen heute alle ab und zu mal >verdammt<, aber das ist noch lange kein Fluch. So wie >verflixt und zugenäht< oder so... Du kennst doch diese Sprüche.«
»Ich kenne sie nicht, aber ich stamme ja auch aus der Steinzeit, wie Miß Medway angedeutet hat.«
Das war zuviel für Jo. Sie sprang auf, stammelte, daß es hier zu stickig sei, und stürmte aus dem Zimmer. Ein drückendes Schweigen senkte sich über die kleine Gesellschaft, und Christine dachte wehmütig, daß es niemals zu dieser unerfreulichen Szene gekommen wäre, wenn Robert seine Lämmer für ein paar Stunden im Stich gelassen hätte. Dann räusperte sich James und machte eine Bemerkung über das Wetter, das die Schur beeinträchtige. Und nachdem sich alle große Mühe gegeben hatten, war bald wieder ein normales Gespräch im Gange. Langsam wich die Zornesröte aus dem Gesicht der alten Dame, und Lester fand, daß er es nun wagen könne, seiner entnervenden Liebsten ins Freie zu folgen.
Er fand sie am Ende des Gartens, wo sie ärgerlich auf und ab lief. Als sie seine Schritte hörte, wirbelte sie zu ihm herum. »Was für unmögliche Leute! Wie kannst du sie nur ertragen!«
»Ganz einfach, weil sie meine Verwandten sind, wie ich dir schon mehrmals erklärt habe, und weil ich ihnen eine gewisse Loyalität schuldig bin. Wie würdest denn du reagieren, wenn jemand so abfällig über deine Eltern sprechen würde?«
»Das würde mir nichts ausmachen, aber für mich ist die Familie ja auch nicht so unantastbar und heilig wie für dich. Meine Eltern sind menschliche Wesen, und jeder hat das Recht, sie zu kritisieren.«
»Aber niemand tut es, und darauf kommt es an. Meine Verwandten, besonders Großmutter, sind sehr altmodisch, aber sie haben auch die schönen altmodischen Tugenden, und eine ihrer nachahmenswerten Regeln lautet: Man soll nicht unhöflich zu älteren Menschen sein.«
»Vielen Dank für die Belehrung! Mrs. Holden war aber zuerst unhöflich, und wenn sie auch schon über achtzig ist — das bedeutet noch
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