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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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riechen.
    So langsam wie möglich hebt sie das rosa Laken von ihrem feuchten Körper, setzt sich auf, sieht sich vorsichtig um. Nichts Großes, nicht in dieser Kabine: Hier ist nicht genug Platz. Dann sieht sie: Es ist nur eine Biene.
    Eine Biene im Haus kündigt Besuch an, sagte Pilar; und wenn die Biene stirbt, wird es kein erfreulicher Besuch. Ich darf sie nicht töten, denkt Toby. Behutsam faltet sie sie in einen rosa Waschlappen. »Sende eine Botschaft«, sagte sie zu der Biene. »Sag der Geisterwelt: ›Bitte schickt Hilfe, und zwar bald.‹« Aberglaube hin oder her, sie fühlt sich eigentümlich gestärkt. Auch wenn es eine der transgenen Bienen sein könnte, die freigelassen wurden, nachdem die natürlichen Bienen durch den Virus ausgelöscht worden waren; oder gar ein unkontrolliert herumirrender Cyborgspion. In dem Fall wäre sie natürlich eine denkbar schlechte Botin.
    Sie steckt den Waschlappen in die Tasche ihres UV-Mantels; sie wird die Biene aufs Dach bringen, freilassen und zusehen, wie sie ihren Botengang zu den Toten antritt. Doch während sie sich den Gewehrriemen über die Schulter schlingt, drückt sie wohl zu fest gegen die Tasche, denn als sie die Biene wieder auspackt, sieht sie deutlich weniger lebendig aus. Toby schüttelt das Tuch über dem Geländer aus in der Hoffnung, dass die Biene wegfliegt. Sie bewegt sich zwar in der Luft, aber eher wie ein Kern als wie ein Insekt: Es verspricht kein erfreulicher Besuch zu werden.
    Sie geht auf die Gartenseite des Daches und wirft einen Blick über den Rand. Und da ist er auch schon, der unerfreuliche Besuch: Die Schweine sind wieder da. Sie haben sich unter dem Zaun durchgegraben und randaliert. Es sieht weniger nach einem Fressgelage als nach einem gezielten Racheakt aus. Die Erde ist aufgewühlt und zertrampelt: Was sie nicht gefressen haben, haben sie plattgewalzt.
    Wäre sie der Typ dafür, würde sie heulen. Sie hebt das Fernglas, wirft einen Blick über die Wiese. Erst sieht sie sie nicht, doch dann entdeckt sie zwei rosagraue Köpfe − nein, drei − nein, fünf − über den hochgeschossenen Blumen. Knopfaugen, eins pro Schwein: Sie sehen sie von der Seite an. Sie haben sie beobachtet, als wollten sie ihre Bestürzung miterleben. Außerdem sind sie außer Reichweite: Auf sie zu schießen wäre Verschwendung von Munition. Sie traut ihnen durchaus zu, das bereits herausgefunden zu haben.
    »Ihr verfluchten Schweine!«, brüllt sie ihnen entgegen. »Mistschweine. Schweinsgesichter!« Natürlich werden sie keines dieser Schimpfwörter als Beleidigung auffassen.
    *
    Was nun? Ihr Vorrat an getrocknetem Gemüse ist verschwindend klein, die Gojibeeren und Chia sind so gut wie alle, die pflanzlichen Eiweiße sind aufgebraucht. Am schlimmsten aber ist, sie hat keine Fette mehr: Die Shea-und Avocado-Bodylotion hat sie restlos vertilgt. In den Kickriegeln ist zwar etwas Fett − von denen hat sie noch ein paar −, aber nicht genug, um lange vorzuhalten. Ohne Lipide frisst der Körper erst seine Fettreserven und dann die Muskeln, und das Hirn ist reines Fett, und das Herz ist ein Muskel. Erst wird man zu seiner eigenen Futterschleife, und dann fällt man tot um.
    Sie wird wohl oder übel auf Nahrungssuche gehen müssen. Der Eber wird inzwischen verwest sein, den kann sie nicht essen. Sie könnte sich ein grünes Kaninchen schießen − aber nein, auch das sind Säugetiere, und ein solches Gemetzel bringt sie nicht über sich. Also erst einmal Ameisenlarven und Eier oder irgendwelche Raupen.
    Ist es das, was die Schweine von ihr wollen? Dass sie ihre Trutzburg verlässt und ins Freie tritt, damit sie sie anfallen, zu Boden werfen und in Stücke reißen können? Ein Picknick für Schweine. Lauter Schweinereien. Sie hat eine relativ genaue Vorstellung davon, wie das aussähe. Die Gärtner hatten damals keine Skrupel, die Fressgewohnheiten der diversen Gottesgeschöpfe ausführlich darzustellen: Alles andere wäre Heuchelei gewesen. Niemand kommt mit Messer, Gabel und Bratpfanne auf die Welt, sagte Zeb immer. Oder mit Serviette in der Hand. Und wenn wir Schweine essen, warum sollten Schweine nicht auch uns essen? Wenn sie uns irgendwo rumliegen sehen.
    Den Garten wieder herzurichten hat wenig Sinn. Die Schweine würden einfach abwarten, bis sich das Zerstören wieder lohnt, und dann zuschlagen. Vielleicht sollte sie sich einen Dachgarten bauen wie damals die Gärtner; dann brauchte sie das Hauptgebäude nie wieder zu verlassen. Aber dann müsste sie

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