Das Jahr der Flut
Toby mit großer Entschlossenheit zu sich −, die ich momentan nicht erörtern werde.
*
Sie zieht die Chirurgenhandschuhe an, wirft sich die AnuYu-Tasche über die Schulter und öffnet die Tür. Erst betritt sie den zertrampelten Garten, um eine Zwiebel und zwei Radieschen zu retten und eine Schicht feuchte Erde in den Plastikbehälter zu löffeln. Dann überquert sie den begrünten Platz, geht vorbei an den schweigenden Brunnen.
So weit von der Spa-Anlage entfernt hatte sie sich schon lange nicht mehr. Jetzt steht sie auf der Wiese: Es ist eine große Fläche. Trotz des breitkrempigen Sonnenhuts und der Sonnenbrille blendet sie das Licht in den Augen.
Keine Panik, sagt sie zu sich. So muss sich eine Maus fühlen, die sich mitten ins Zimmer wagt, nur bist du keine Maus. Die Gräser bleiben an ihrem UV-Mantel kleben und schlingen sich um ihre Füße, als wollten sie sie zurückhalten, festhalten. Die Gräser haben kleine Dornen, kleine Krallen und Fallstricke. Es ist, als würde sie sich durch ein riesiges Stück Gestricktes drängen: gestrickten Stacheldraht.
Was ist das? Ein Schuh.
Jetzt nicht über Schuhe nachdenken. Nicht über die modernde Handtasche, die ihr kurz ins Auge gefallen ist. Elegant. Rotes Fleder. Ein Fetzen aus der Vergangenheit, der noch nicht von der Erde verschlungen wurde. Sie will nicht auf eines dieser Überbleibsel treten, aber man sieht so schlecht durch die netzartigen Verschlingungen des Unkrauts.
Sie geht weiter. Sie spürt ein Prickeln in den Beinen, wie in der Erwartung einer Berührung. Glaubt sie im Ernst, dass sich im nächsten Moment eine Hand aus Klee und Gänsedisteln schiebt und sie am Fußgelenk packt?
»Nein«, sagt sie laut. Sie bleibt stehen, um ihren Herzschlag zu beruhigen und das Terrain zu erkunden. Die breite Hutkrempe beeinträchtigt ihre Sicht. Sie dreht sich mit dem ganzen Körper nach links, nach rechts, nach hinten und wieder nach vorne. Ringsum duftet es betörend − der Klee steht hoch und in voller Blüte, wilde Möhre, Lavendel, Majoran und Zitronenmelisse, wildwachsend. Die Wiese summt vor Bestäubern: Hummeln, glänzenden Wespen, irisierenden Käfern. Das Summen hat etwas Einlullendes. Bleib hier. Leg dich hin. Schlaf.
Die Natur in ihrer vollen Kraft ist zu viel für uns, sagte Adam Eins immer. Sie ist ein starkes Halluzinogen, ein Schlafmittel für die ungeschulte Seele. Wir sind nicht mehr in ihr zu Hause. Wir müssen sie verdünnen. Wir können sie nicht pur trinken. Und mit Gott ist es genauso. Zu viel Gott gibt eine Überdosis. Gott muss erst gefiltert werden.
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In mittlerer Entfernung liegt vor ihr die dunkle Linie des Waldrands. Sie spürt seine Anziehungskraft, wie er sie bezirzt, ähnlich wie Meerestiefen und Bergeshöhen Menschen dazu verleiten, immer höher hinauf-oder immer tiefer hinabzusteigen, bis sie in einen Zustand nichtmenschlicher Verzückung geraten und verschwinden.
Ihr müsst euch aus der Sicht des Raubtiers betrachten, lehrte damals Zeb. Sie stellt sich in Gedanken in den Wald und sieht durch die filigranen Blätter und Äste. Vor ihr erstreckt sich eine gewaltige wilde Steppe, und in der Mitte steht eine kleine zarte rosafarbene Gestalt wie ein Embryo oder ein Außerirdischer mit großen dunklen Augen − allein, ungeschützt, verletzlich. Hinter der Gestalt erhebt sich ihre Behausung, ein absurder Kasten aus Stroh, der nur aussieht wie aus Stein. Der so leicht zum Einsturz zu bringen ist.
Angstschweiß steigt ihr in die Nase: Es ist ihr eigener.
Sie hebt das Fernglas. Das Laub zuckt, aber nur in der Brise. Langsam weitergehen, sagt sie zu sich. Denk an das, was du dir hier draußen vorgenommen hast.
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Nach einer schier endlos erscheinenden Zeit gelangt sie an die Stelle, wo der tote Eber liegt. Ein Schwarm glitzernd grüner und bronzefarbener Fliegen bebt über ihm in der Luft. Als sie sich nähert, heben die Geier ihre roten ungefiederten Köpfe, die wie gebrüht wirkenden Hälse. Sie fuchtelt mit dem Stiel ihres Wischmopps in ihre Richtung, und die Vögel suchen mit entrüstetem Fauchen das Weite. Einige heben sich spiralförmig in die Luft, den Blick auf sie geheftet; andere flattern auf die Bäume zu und lassen sich mit ihren Staubwedelfedern wartend in den Ästen nieder.
Überall liegen Farnwedel, auf dem Kadaver und daneben. Farnwedel? Solche Farne wachsen nicht auf der Wiese. Einige sind alt und vertrocknet, andere frisch. Auch Blumen. Sind das Blüten von den Rosen in der Auffahrt? So etwas ist ihr schon zu
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