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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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»Wenn jemand tot ist, spürt man das. Bei Leuten, die man sehr gut kennt. Meinst du nicht auch?«
    Da war ich mir nicht so sicher. Also sagte ich: »Danke jedenfalls.« Immer wenn man sich bei Amanda bedankte, tat sie so, als hätte sie es nicht gehört; oder sie sagte: »Zahl’s mir irgendwann zurück.« Das war es, was sie auch jetzt sagte. Sie wollte immer nur tauschen, jemandem was umsonst zu geben war ihr zu lasch.
    »Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte ich.
    »Hierbleiben«, sagte Amanda. »Bis wir nichts mehr zu essen haben. Oder bis das Solarsystem zusammenbricht und das Zeug in der Tiefkühlung anfängt zu gammeln. Das könnte eklig werden.«
    »Und dann?«, sagte ich.
    »Dann gehen wir woandershin.«
    »Wohin denn zum Beispiel?«
    »Darüber müssen wir uns jetzt noch keine Sorgen machen.«
    *
    Die Zeit zog sich hin. Wir schliefen so lange, wie wir wollten, standen auf und duschten − wegen der Solaranlage hatten wir immer noch genügend Wasser −, und dann aßen wir irgendwas aus der Tiefkühltruhe. Meist unterhielten wir uns über unsere Erlebnisse bei den Gärtnern − alter Kram von früher. Wenn es zu heiß wurde, legten wir uns wieder schlafen. Später gingen wir in die Klebezonenzimmer, schalteten die Klimaanlage an und guckten alte Filme auf DVD. Wir hatten keine Lust, das Gebäude zu verlassen.
    Abends tranken wir etwas Alkohol − hinter der Bar standen noch immer ein paar unangebrochene Flaschen − und plünderten die teuren Konserven, die Mordis für die superwichtigen Kunden und auch für seine besten Mädchen immer im Haus hatte. Treuesnacks, nannte er das; er verteilte sie immer dann, wenn man das kleine bisschen Extra gegeben hatte, wobei man nie im Voraus wusste, worin das kleine bisschen Extra bestehen würde. So war ich jedenfalls an meinen ersten Kaviar gekommen. Der nach salzigen Luftblasen schmeckte.
    Für mich und Amanda war im Scales allerdings kein Kaviar mehr übrig.
     
    59.
Toby. Sankt Anil Agarwal. Jahr Fünfundzwanzig
     
    Jetzt kommt der Hungertod, dachte Toby. Sankt Euell, bete für mich und für alle, die da hungern inmitten der Fülle. Schick mir schnell ein paar tierische Eiweiße.
    Auf der Wiese tritt der Eber ins Jenseits ein. Gase steigen von ihm auf, die Flüssigkeit sickert heraus. Die Geier haben sich schon schadlos an ihm gehalten, die Krähen lungern am Rand herum wie die Kleinsten bei einer Straßenschlacht und schnappen sich, was sie können. Was immer da draußen vor sich geht, Maden sind mit dabei.
    In der schlimmsten Not, sagte Adam Eins immer, fangt am unteren Ende der Nahrungskette an. Wer kein zentrales Nervensystem hat, leidet gewiss weniger.
    Toby sammelt alles Notwendige zusammen − ihren rosa UV-Mantel, den Sonnenhut, eine Flasche Wasser, ein Paar Chirurgenhandschuhe. Das Fernglas, das Gewehr. Den Stiel ihres Wischmopps als Stock. Sie findet einen Plastikbehälter mit Schnappverschluss, sticht ein paar Löcher in den Deckel, steckt einen Löffel hinein und verstaut alles in einer Geschenktüte aus Plastik mit dem zwinkernden AnuYu-Logo. Ein Rucksack wäre besser, dann hätte sie die Hände frei. So etwas gab es hier mal − für die Picknickbrote der Spaziergängerinnen − aber sie weiß nicht mehr, wohin sie sie gepackt hat.
    Es gibt immer noch einen Vorrat AnuYu-Natur-SolarNix. Das Verfallsdatum ist überschritten, und die Creme riecht ranzig, aber sie schmiert sich dennoch das Gesicht ein und sprüht sich SuperD auf Fuß- und Handgelenke, falls es da draußen Mücken gibt. Sie nimmt einen großen Schluck Wasser, geht noch einmal auf die violette Biolette; sollte sie in Panik geraten, wird sie sich wenigstens nicht in die Hose machen. Sie hängt sich das Fernglas um den Hals und geht für einen letzten Kontrollblick aufs Dach. Keine Ohren, keine Rüssel auf der Wiese. Keine pelzigen goldenen Schwänze.
    »Hör auf zu trödeln«, sagte sie zu sich. Sie muss sofort los, um vor dem Nachmittagsgewitter zurück zu sein. Wäre doch blöd, vom Blitz getroffen zu werden. Jeder Tod ist aus der Sicht des Betroffenen sinnlos, sagte Adam Eins immer, denn egal, wie gut man vorbereitet ist, der Tod kommt stets, ohne anzuklopfen. Warum ausgerechnet jetzt, geht dann der Aufschrei. Warum schon so früh? Es ist der Aufschrei des Kindes, das in der Dämmerung ins Haus gerufen wird, es ist der universelle Protest gegen die Zeit selbst. Denkt daran, liebe Freunde: Das, wofür ich lebe, und das, wofür ich sterbe, sind ein und dasselbe.
    Eine Sache − sagt

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