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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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wir mehr denn je auf unsere Entschlossenheit angewiesen. Wir beten, dass der Geist der heiligen Dian uns inspirieren und beistehen möge, damit wir im Augenblick der Prüfung standhaft bleiben. Fürchtet euch nicht, sagt dieser Geist, selbst wenn das Schlimmste eintrifft: Denn wir finden Schutz unter den Fittichen eines noch viel größeren Geistes.
    Eine Stunde vor Sonnenaufgang werden wir dieses Versteck verlassen müssen, einzeln und in Zweier-und Dreiergruppen. Schweigt dann still, meine Freunde, macht euch unsichtbar, werdet eins mit eurem Schatten. Und mit Gottes Gnade werden wir obsiegen.
    Wir dürfen nicht singen, aus Furcht, dass uns jemand hören könnte, aber:
    Lasst uns flüstern.
     
    WIR PREISEN UNSRE SANKT DIAN
     
    Wir preisen unsre Sankt Dian:
    Der Tierschutz war ihr ganzer Sinn.
    Trotz ihrer Intervention
    Schied noch ein Tier dahin.
     
    Die Nebelberge auf und nieder
    Folgte sie den Affenherden,
    Bis die Tiere sie erkannten und
    Familie ließen werden.
     
    Die sanften Riesen nahm Dian
    Voll guten Mutes in den Arm
    Und setzte alles ein, um sie
    Vor Unheil zu bewahren.
     
    Die Affen sahen sie als Schwester,
    Tollten frei mit ihr herum.
    Brutale Mörder aber brachten eines
    Dunklen Nachts sie um.
     
    Zu viel Gewalt und Grausamkeit!
    Zu wenig sind wie du, Dian.
    Denn wenn ein Tier für immer stirbt,
    So stirbt ein Teil von uns dahin.
     
    Die Nebelberge auf und ab,
    Wo einstens der Gorilla war,
    Da wandert jetzt dein guter Geist:
    Achtsam und immerdar.
     
    Aus dem
Gesangbuch der Gottesgärtner

 
    55.
Ren. Jahr Fünfundzwanzig
     
    Durch seine innere Einstellung erschafft man sich seine eigene Welt, sagten die Gärtner immer. Und die Welt da draußen wollte ich mir nicht erschaffen: die Welt der Toten und Sterbenden. Also sang ich ein paar Gärtnerlieder, vor allem die fröhlichen. Oder ich tanzte. Oder ich hörte Musik auf meinem See/H/Öhr-LekkerBit, obwohl ich immer wieder daran denken musste, dass es jetzt keine neue Musik mehr geben würde.
    Nennt ihre Namen, sagte Adam Eins immer zu uns. Und dann sagten wir im Chor die Liste der Tiere auf: Diplodocus, Pterosaurus, Oktopus und Brontosaurus; Trilobit, Nautilus, Ichthyosaurus, Schnabeltier, Mastodon, Dodo, Riesenalk, Komodowaran. Ich sah die Namen vor mir, klar wie auf Papier geschrieben. Adam Eins sagte, die Nennung der Namen wäre eine Möglichkeit, diese Tiere am Leben zu erhalten. Also nannte ich ihre Namen.
    Ich nannte auch andere Namen. Adam Eins, Nuala, Zeb, Shackie, Croze und Oates. Glenn − ich konnte mir einfach nur nicht vorstellen, dass jemand so Intelligentes tot war.
    Und Jimmy, trotz allem, was er getan hatte.
    Und Amanda.
    Ich nannte immer und immer wieder ihre Namen, um sie am Leben zu erhalten.
    Dann aber dachte ich an das, was Mordis mir zugeflüstert hatte, ganz am Ende.
Dein Name
, hatte er gesagt. Es war anscheinend wichtig gewesen.
    *
    Ich zählte, was ich noch zu essen hatte. Für vier Wochen noch, für drei Wochen, zwei. Ich hakte die Zeit mit meinem Augenbrauenstift ab. Wenn ich weniger aß, würde es länger halten. Aber wenn Amanda nicht bald kam, wäre ich tot. Schwer vorstellbar.
    Glenn sagte damals immer, man könne sich seinen eigenen Tod deshalb nicht vorstellen, weil man in dem Satz »Dann werde ich tot sein« das Wort »ich« benutzt, also ist man in dem Satz immer noch am Leben. Und so waren die Leute wohl auf die unsterbliche Seele gekommen − über die Grammatik. Und auch auf Gott, denn wenn es eine Vergangenheitsform gibt, muss es auch eine Vergangenheit vor der Vergangenheit geben, und man geht immer weiter zurück in der Zeit, bis man an ein
Ich
weiß nicht
kommt, und das ist dann Gott.
    Es ist das, was man nicht weiß − das Dunkle, Versteckte, die Rückseite des Sichtbaren −, und das alles nur, weil wir Grammatik haben, und Grammatik wäre unmöglich ohne das FOXP2-Gen; demnach ist Gott eine Mutation des Gehirns, und es ist dasselbe Gen, das die Vögel zum Singen brauchen. Die Musik ist in uns eingebaut, sagte Glenn. Sie ist mit uns verwoben. Sie wäre sehr schwer zu amputieren, weil sie ein wesentlicher Teil von uns ist, wie Wasser.
    Ich fragte ihn, ob dann auch Gott mit uns verwoben sei. Und er sagte, kann schon sein, aber genützt hat es uns wenig.
    Seine Vorstellung von Gott war ganz anders als die der Gärtner. Er sagte, Gott als Geist zu bezeichnen sei sinnlos, weil sich ein Geist nicht messen lässt. Deswegen sagte er,
Streng deinen Fleischcomputer an,
wenn er
Denk nach
meinte. Die Idee war

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