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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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woanders hintun. »Bist du ein Fisch?«, fragte er immer wieder. Er schien es nicht zu wissen.
    Ach Jimmy, dachte ich. Was ist nur aus dir geworden?

DIE HEILIGE DIAN, MÄRTYRERIN

Jahr Vierundzwanzig
     
    Von der Verfolgung
    Gesprochen von Adam Eins
     
    Ihr lieben Freunde, ihr lieben treuen Gefährten:
    Unser Dachgarten Eden blüht jetzt nur noch in unserer Erinnerung. Auf dem Antlitz der Erde ist er nur noch eine Ödnis − Sumpf oder Wüste, je nach Niederschlag. Wie anders unsere Situation doch nun ist im Vergleich zu unseren einstigen Tagen, die von Grünzeug und Salat nur so strotzten! Wie sind wir geschrumpft, wie klein ist unsere Zahl geworden! Von einer Zuflucht zur anderen werden wir getrieben, gejagt und verfolgt. Manch früherer Freund hat seinen Glauben widerrufen, andere haben falsches Zeugnis wider uns abgelegt. Wieder andere haben sich Extremismus und Gewalt zugewandt und sind bei Razzien gegen ihre Person auf grausame Weise mit dem Spraygewehr ermordet worden. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an unser liebes Kind von damals, die kleine Bernice. Lasst sie uns in Licht tauchen.
    Einige wurden verstümmelt und auf leere Grundstücke geworfen, um Panik unter uns zu säen. Andere sind verschwunden, von ihren Zufluchtsstätten verschleppt und in die Haftanstalten der Außenhölle verfrachtet worden, ohne Prozess, ja sogar ohne die Namen ihrer Ankläger zu erfahren. Ihr Geist ist womöglich schon durch Drogen und Folter dahin, ihre Körper zu Boilermüll geschmolzen. Der ungerechten Gesetze wegen können wir nicht in Erfahrung bringen, wo sie sind, unsere Mitgärtner. Wir können nur hoffen, dass sie in festem Glauben sterben werden.
    Heute feiern wir Sankt Dian, den Tag der Tierempathie. An diesem Tage gedenken wir des heiligen Jerome, Schutzpatron der Löwen, des heiligen Robert, Schutzpatron der Mäuse, und des heiligen Christopher Smart, Schutzpatron der Katzen; auch des heiligen Farley Mowat und der Ikhwan-al-Safa und ihres
Mensch und Tier vor dem König der Dschinnen.
Aber vor allem gedenken wir der heiligen Dian Fossey, die bei der Verteidigung der Gorillas vor der skrupellosen Ausbeutung ihr Leben lassen musste. Sie setzte sich für ein friedliches Königreich ein, in dem alles Leben geehrt würde; finstere Mächte aber taten sich zusammen, um sowohl sie als auch ihre sanften Gefährten, die Menschenaffen, auszurotten. Der Mord an ihr war abscheulich und nicht minder abscheulich die bösen Gerüchte, die sowohl zu ihren Lebzeiten als auch nach ihrem Tod über sie verbreitet wurden. Denn die Mächte der Außenhölle töten sowohl in Worten als auch in Taten.
    Die heilige Dian verkörpert ein Ideal, das uns sehr am Herzen liegt: die Liebe und Sorge für alle anderen Geschöpfe. Sie war überzeugt, dass diese die gleiche Zärtlichkeit verdienen, wie wir sie unseren liebsten Freunden und Verwandten angedeihen lassen, und darin ist sie uns ein großes Vorbild. Auf jenem Berg, den sie zu schützen suchte, liegt sie inmitten ihrer Freunde, den Gorillas, begraben.
    Wie so vielen Märtyrern war es auch der heiligen Dian nicht vergönnt, ihre Arbeit zur Vollendung gelangen zu sehen. Aber zumindest ist ihr das Wissen erspart geblieben, dass dasjenige Tier, für das sie ihr Leben gab, nicht mehr existiert. Wie so viele andere ist es vom Angesicht der Erde hinweggefegt worden.
    Woran liegt es nur, dass unsere Spezies derart zu Gewalt neigt? Warum sind wir so süchtig nach Blutvergießen? Immer wenn wir versucht sind, uns aufzuplustern und überlegen zu fühlen gegenüber allen anderen Tieren, sollten wir uns unsere eigene grausame Geschichte ins Gedächtnis rufen.
    Es möge euch ein Trost sein, dass diese Geschichte alsbald von der wasserlosen Flut ausgelöscht werden wird. Nichts wird von der Außenhölle übrig bleiben als morsches Holz und rostiges Metall; und darüber werden Kudzu und andere Ranken klettern, wie es im Wort Gottes heißt: »dass man’s miteinander lässt liegen den Vögeln auf den Bergen und den Tieren im Lande, dass des Sommers die Vögel darin nisten und des Winters allerlei Tiere im Lande darin liegen«. Denn alle menschlichen Werke werden sein wie Wörter, die auf Wasser geschrieben sind.
    *
    Da wir nun in diesem trüben Keller zusammenhocken, mit gedämpften Stimmen hinter verdunkelten Scheiben sprechen, voller Angst vor Infiltration, Abhörgeräten oder Cyborginsekten und den rachsüchtigen Funktionären des CorpSeCorps, die selbst jetzt noch uns entgegeneilen könnten, sind

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