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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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mir zuwider: Schlimme Vorstellung, ein Kopf voller Fleisch.
    *
    Immer wieder glaubte ich, Leute zu hören, die durchs Haus gehen, aber wenn ich mich durch die Räume schaltete, rührte sich nichts. Immerhin funktionierte die Solaranlage noch.
    Wieder zählte ich das Essen. Noch fünf Tage, großzügig gerechnet.
     
    56.
     
    Ich entdeckte Amanda zuerst als Schatten auf dem Videobildschirm. Vorsichtig betrat sie die Schlangengrube, dicht an der Wand: Da noch alle Lichter brannten, musste sie sich nicht durch die Dunkelheit tasten. Die Musik lief immer noch, die Bässe wummerten, und nachdem sie sich umgesehen und versichert hatte, dass der Laden wirklich leer war, ging sie hinter die Bühne und stellte die Musik aus.
    »Ren?«, hörte ich sie sagen.
    Dann war sie vom Bildschirm verschwunden. Irgendwann erfasste das Kameramikro im Flur ihre leisen Schritte, und dann konnte ich sie sehen. Und dann konnte sie mich sehen. Ich musste vor Erleichterung so heulen, dass ich kein Wort herausbrachte.
    »Hallo«, sagte sie. »Direkt vor der Tür liegt irgendein Toter. Total widerlich. Bin gleich wieder da.« Mordis war es, den sie meinte − niemand hatte seine Leiche entfernt. Später erzählte sie, dass sie das, was noch von ihm übrig war, in einen Duschvorhang gewickelt, den Flur runtergeschleppt und in einen Aufzug geschoben hätte. Ein Fest für die Ratten, sagte sie, nicht nur im Scales, sondern überall, wo es auch nur halbwegs städtisch war. Bevor sie ihn anfasste, hatte sie sich erst die Handschuhe irgendeines Biofilmstrumpfs angezogen − Amanda war zwar mutig, aber sie setzte sich keinen unnötigen Gefahren aus.
    Irgendwann war sie wieder auf meinem Bildschirm. »Also«, sagte sie. »Da bin ich. Hör auf zu heulen, Ren.«
    »Ich hab gedacht, du kommst nie«, sagte ich mühsam.
    »Das hab ich auch gedacht«, sagte sie. »Wie geht die Tür auf?«
    »Ich kenn den Code nicht«, sagte ich. Ich erklärte ihr die Sache mit Mordis − dass er als Einziger die Klebezonennummern kannte.
    »Er hat sie dir nie gesagt?«
    »Er sagte immer, wozu braucht ihr die Codes? Er änderte sie sowieso jeden Tag − er wollte nicht, dass andere sie rausfinden, am Ende wären irgendwelche Verrückten reingekommen. Es war nur zu unserem Schutz.« Ich gab mir alle Mühe, nicht in Panik zu geraten: Da stand Amanda direkt vor meiner Tür, aber wenn sie nichts tun könnte, was dann? »Irgendeine Idee?«, fragte sie.
    »Er hat irgendwas mit meinem Namen gesagt«, antwortete ich. »Kurz bevor er − bevor sie ihn … Vielleicht meinte er das.«
    Amanda machte einen Versuch. »Nee«, sagte sie. »Na dann. Vielleicht dein Geburtstag. Monat und Tag? Das Jahr?«
    Ich hörte, wie sie leise fluchend ein paar Zahlen eingab. Es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, aber dann hörte ich den Riegel zurückschnappen. Die Tür ging auf, und da stand sie vor mir.
    »Oh Amanda«, sagte ich. Sie war sonnenverbrannt, verlottert und schmutzig, aber sie war es. Ich streckte ihr meine Arme entgegen, aber sie wich einen Schritt zurück.
    »War ein ganz einfacher A-gleich-i-Code«, sagte sie. »Es war doch dein Name. Brenda, nur rückwärts geschrieben. Fass mich nicht an, ich könnte verseucht sein. Ich muss erst mal duschen.«
    Während Amanda in meinem Klebezonenbad unter der Dusche stand, klemmte ich einen Stuhl in die Tür, damit sie bloß nicht wieder zufiel und wir eingesperrt waren. Draußen roch es schrecklich im Vergleich zur gefilterten Luft, die ich die ganze Zeit eingeatmet hatte: Verwesung und auch Rauch und brennende Chemikalien, weil es gebrannt hatte und niemand da gewesen war, um die Brände zu löschen. Ein Glück, dass das Scales nicht Feuer gefangen hatte und mit mir abgebrannt war.
    Als Amanda aus der Dusche kam, duschte ich auch, um genauso sauber zu sein wie sie. Danach zogen wir die grünen Hausmäntel an, die Mordis für seine besten Mädchen angeschafft hatte, und saßen rum und aßen Kickriegel aus dem Minikühlschrank und Chickie-Knollen aus der Mikrowelle und tranken ein paar Bier, die wir unten gefunden hatten, und erzählten uns die Geschichte, warum wir noch immer am Leben waren.
     
    57.
Toby. Sankt Kuren Silkwood, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Toby wird aus dem Schlaf gerissen, das Blut rauscht durch ihren Kopf: katusch, katusch, katusch. Sie weiß sofort, dass irgendetwas um sie herum anders ist. Irgendjemand ist in ihren Dunstkreis getreten.
    Weiter atmen, sagte sie zu sich. Schwimmbewegungen machen. Du darfst nicht nach Angst

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