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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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nicht für Transplantationen geklaut worden.
    »Da hat jemand ein sehr scharfes Messer«, sagt Toby.
    Ich habe angefangen zu weinen. »Die haben den kleinen Oatie umgebracht«, sage ich. »Mir ist schlecht.« Ich knicke ein und sinke zu Boden. In diesem Moment ist es mir egal, ob ich hier sterbe: Ich will nicht in einer Welt leben, wo man Oates so was antut. Es ist so ungerecht. Ich keuche schwer und ringe nach Luft, ich muss so schluchzen, dass ich kaum noch was sehen kann.
    Toby packt mich an den Schultern, zieht mich hoch und schüttelt mich. »Lass das«, sagt sie. »Dafür ist jetzt keine Zeit. Jetzt komm.« Sie schiebt mich vor sich her, weiter den Pfad entlang.
    »Können wir ihn nicht wenigstens da runternehmen?«, sage ich mühsam. »Und beerdigen?«
    »Später«, sagt Toby. »Er ist jetzt sowieso nicht mehr in seinem Körper. Er ist jetzt ganz Geist. Schhh, ist ja gut.« Sie bleibt steht, nimmt mich in den Arm und wiegt mich hin und her, dann schiebt sie mich behutsam weiter. »Wir müssen vor dem Nachmittagsgewitter das Pförtnerhaus erreichen«, sagt sie, und die Wolken ziehen schnell aus Süden und Westen heran.
     
    69.
Toby. Sankt Chico Mendes, Märtyrer, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Toby fühlte sich, als hätte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen − das war bestialisch, das war grauenvoll −, aber sie kann Ren gegenüber keine Gefühle zeigen. Die Gärtner hätten empfohlen zu trauern − in Grenzen −, um den Heilungsprozess zu beschleunigen, aber dafür ist im Moment kein Platz. Die Gewitterwolken sind gelblich grün, die Blitze furchterregend: Sie tippt auf einen Tornado. »Beeil dich«, sagt sie zu Ren. »Es sei denn, du willst davongewirbelt werden.« Die letzten fünfzig Meter halten sie sich an den Händen und laufen mit gesenktem Kopf gegen den Wind.
    Das Pförtnerhaus ist im RetroTex-Mex-Stil mit abgerundeten Linien und rosa Solarmauern in Lehmziegeloptik gebaut. Der Kudzu wächst schon an der Hauswand hoch. Das schmiedeeiserne Tor steht offen. Im Ziergarten mit seinem Kreis aus weiß gestrichenen Steinen − WILLKOMMEN IM ANUYU-SPA, mit Buchstaben aus Petunien, jetzt aber von Portulak und Disteln überwuchert − haben irgendwelche Tiere herumgewühlt. Wahrscheinlich die Schweine.
    »Da liegen Beine«, sagt Ren. »Da drüben vor dem Tor.« Ihre Zähne klappern: Sie steht unter Schock.
    »Beine?«, fragt Toby. Sie fühlt sich gekränkt: Wie viele Leichen wird man an einem einzigen Tag denn noch erleben müssen? Sie geht hinüber zum Tor, um nachzusehen. Es sind keine menschlichen Beine, sie stammen von Mo’Hairschafen − ein kompletter Satz, vier Stück, nur die Unterschenkel, das Dünne. Ein wenig lavendelfarbenes Fell hängt noch dran. Da liegt auch ein Kopf, aber kein Mo’Hairkopf: Es ist der Kopf eines Löwamms mit struppigem goldenem Fell, die Augenhöhlen leer und eingedrückt. Auch die Zunge ist weg. Löwammzunge galt im Rarity damals als Delikatesse.
    Toby geht zurück. Ren steht immer noch zitternd da, die Hände vor den Mund geschlagen. »Die stammen von einem Mo’Hairschaf«, sagt sie. »Ich werde uns eine Suppe daraus kochen. Mit unseren leckeren Pilzen.«
    »Oh, ich kann nichts essen«, sagt Ren mit klagender Stimme. »Er war doch noch − ein Junge. Ich hab ihn früher auf dem Arm getragen.« Tränen laufen ihr über die Wangen. »Warum haben sie das getan?«
    »Du musst essen«, sagt Toby. »Es ist deine Pflicht.« Wieso Pflicht?, fragt sie sich. Euer Leib ist ein Gottesgeschenk, und dieses Geschenk müsst ihr in Ehren halten, sagte Adam Eins. Doch in diesem Augenblick ist sie davon alles andere als überzeugt.
    Die Tür zum Pförtnerhaus steht offen. Sie schaut durchs Fenster in den Empfang − niemand da − und schiebt Ren hinein: Das Gewitter ist fast heraufgezogen. Sie legt einen Lichtschalter um: kein Strom. Da ist das übliche kugelsichere Check-in-Fenster, ein toter Dokumentenscanner, die Fingerabdruck-und Iriskameras. Da stand man damals, wohl wissend, dass man fünf aufmontierte Spraygewehre im Rücken hatte, von den müßigen Wachen im Hinterzimmer aus bedient.
    Sie leuchtet mit ihrer Taschenlampe durch die Fenster hinter der Theke in das dunkle Hinterzimmer. Schreibtische, Aktenschränke, Abfall. Da drüben in der Ecke liegt etwas: Von der Größe her könnte es ein Mensch sein. Ein Toter oder ein Schlafender oder − im schlimmsten Fall − jemand, der sie hat kommen hören und sich als Müllbeutel tarnt, um sich, sobald sie nicht mehr damit rechnen, von

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