Das Jahr der Flut
hinten anzuschleichen, die Reißzähne zu blecken und sie in ihr Fleisch zu versenken.
Die Tür zum Hinterzimmer steht offen: Sie schnuppert in die Luft. Schimmel, natürlich. Was noch? Exkremente. Verwesung. Andere giftige Untertöne. Sie wünschte, sie hätte die Nase eines Hundes, um die einzelnen Gerüche voneinander unterscheiden zu können.
Sie zieht die Tür zu. Trotz Regen und Wind geht sie hinaus und schleppt den größten Stein vom Rand des Ziergartens ins Haus. Gegen einen kräftigen Menschen kann man damit nichts ausrichten, dazu ist er nicht groß genug, einen geschwächten oder kranken Menschen dagegen könnte er zumindest aufhalten. Sie hat keinerlei Bedürfnis, von einem fleischfressenden Lumpenhaufen hinterrücks überfallen zu werden. »Wozu machst du das?«, fragt Ren.
»Nur für den Fall«, sagt Toby. Sie geht nicht weiter auf die Frage ein. Ren ist so schon zittrig genug: Ein Schock mehr, und sie könnte zusammenklappen.
Das Gewitter bricht mit voller Kraft herein. Eine dichtere Dunkelheit heult von allen Seiten: Der Donner höhlt die Luft aus. Im Blitzlicht leuchtet Rens Gesicht auf, ihre Augen sind geschlossen, ihr Mund ein verängstigtes Rund. Sie klammert sich an Tobys Arm, als würde sie im nächsten Moment von einer Klippe stürzen.
*
Nach einer gefühlten Ewigkeit zieht das Gewitter weiter. Toby geht hinaus, um die Mo’Hairbeine in Augenschein zu nehmen. Sie spürt ein Prickeln auf der Haut: Diese Beine sind nicht selbst hierhergelaufen, und sie sind immer noch relativ frisch. Nirgends sind Anzeichen eines Feuers: Wer immer das Tier getötet hat, hat sich den Rest davon nicht hier gebraten. Sie bemerkt die Schnittstellen: Der Mann mit dem scharfen Messer muss hier gewesen sein. Ob er noch in der Nähe ist?
Sie sieht in beide Richtungen die Straße entlang, die jetzt mit abgerissenen Blättern übersät ist. Nichts rührt sich. Die Sonne ist wieder da. Dampf steigt auf. Krähen in der Ferne.
Sie nimmt ihr eigenes Messer und kratzt einen Großteil der haarigen Haut von einem der Mo’Hairbeine. Hätte sie eine große Axt, könnte sie es in topfgerechte Stücke hacken. Schließlich legt sie es mit einem Ende auf die oberste Stufe, die zum Pförtnerhaus führt, mit dem anderen auf den Asphalt und schlägt mit einem Stein zu. Bliebe noch das Problem mit dem Feuer. Stundenlang im Wald nach trockenen Hölzern zu wühlen würde wohl wenig bringen. »Ich muss durch diese Tür«, sagt sie zu Ren.
»Warum?«, fragt Ren schwach. Sie sitzt zusammengekauert im leeren Empfangsraum.
»Da liegt eine Menge Zeug zum Verbrennen«, sagt Toby. »Um Feuer zu machen. Jetzt hör zu. Es kann sein, dass da jemand drin ist.«
»Ein Toter?«
»Ich weiß es nicht«, sagt Toby.
»Ich will nicht noch mehr Tote sehen«, sagt Ren verdrossen. Da wird sie vielleicht keine Wahl haben, denkt Toby.
»Hier ist das Gewehr«, sagt sie. »Da ist der Abzug. Ich möchte, dass du dich hierhin stellst. Sollte jemand anders als ich aus dieser Tür kommen, dann drückst du ab. Aber nicht aus Versehen auf mich schießen. Okay?« Sollte sie selbst da drin abgeknallt werden, hat Ren zumindest eine Waffe.
»Okay«, sagt Ren. Unbeholfen nimmt sie das Gewehr in die Hand. »Aber ich find’s nicht gut.«
Ich muss verrückt sein, denkt Toby. Die ist so nervös, dass ich nur niesen muss, und sie schießt mir in den Rücken. Aber wenn ich nicht in diesen Raum schaue, dann habe ich heute eine schlaflose Nacht und morgen früh vielleicht eine durchgeschnittene Kehle. Und noch immer kein Feuer.
Mit Taschenlampe und dem Stiel ihres Wischmopps geht sie hinein. Der Boden ist übersät mit Unterlagen, zerschmetterten Lampen. Überall liegen Scherben, sie knirschen unter den Füßen. Es riecht jetzt noch stärker. Fliegen summen. Ihre Armhärchen haben sich aufgestellt, in ihrem Kopf rauscht das Blut.
Das Bündel auf dem Fußboden ist definitiv ein Mensch unter irgendeiner scheußlichen Decke. Jetzt erkennt sie eine Glatze, ein paar Haarsträhnen. Sie stößt mit dem Stiel gegen die Decke, richtet unablässig den Lichtkegel auf das Bündel. Ein Stöhnen. Sie stochert weiter: Der Stoff zuckt ein wenig. Jetzt schauen zwei Augenschlitze hervor und ein Mund, verkrustete Lippen voller Fieberbläschen.
»Verdammte Scheiße«, sagt der Mund. »Wer bist du?«
»Sind Sie krank?«, fragt Toby.
»Irgendein Arschloch hat auf mich geschossen«, sagt der Mann. Er blinzelt im Lichtschein. »Mach das verdammte Ding aus.« Keine Anzeichen von Blut,
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