Das Jahr der Flut
das ihm aus Nase oder Augen sickert. Mit etwas Glück hat er sich nicht mit der Seuche angesteckt. Eine Hand kriecht hervor: rote und blaue Adern. Er ist verschrumpelt und ungewaschen, die Augen sind eingesunken vom Fieber: Aber es ist Blanco, höchstpersönlich. Sie muss es wissen, schließlich kennt sie ihn aus nächster Nähe.
»Mein Bein«, sagt er. »Total im Arsch. Haben mich einfach sitzen lassen, die Wichser.«
»Zwei Männer?«, fragt Toby. »Hatten sie eine Frau dabei?« Sie versucht, mit ruhiger Stimme zu sprechen.
»Gib mir Wasser«, sagt Blanco. In der Ecke neben seinem Kopf steht eine leere Flasche. Zwei Flaschen, drei. Abgenagte Rippen: von dem lavendelfarbenen Mo’Hairschaf? »Wer ist’n da noch da draußen?«, krächzt er. Er atmet schwer. »Sind doch noch mehr Schlampen. Da waren doch noch Stimmen.«
»Zeigen Sie mir Ihr Bein«, sagt Toby. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Er wird nicht der Erste sein, der eine Verletzung vortäuscht.
»Ich geh drauf, verfluchte Scheiße«, sagt Blanco. »Mach das Licht aus!« Toby sieht, wie sich verschiedene Handlungsszenarien in Form von kleinen Wellen über seiner gerunzelten Stirn entrollen. Weiß er, wer sie ist? Wird er versuchen, über sie herzufallen? »Nehmen Sie die Decke weg«, sagt Toby. »Und ich hole Ihnen etwas Wasser.«
»Mach doch selbst«, quakt Blanco.
»Nein«, sagt Toby. »Wenn Sie keine Hilfe wollen, sperre ich Sie einfach hier ein.«
»Schloss ist kaputt«, sagt er. »Du dürre Nutte. Gib mir Wasser.«
Toby kann den anderen Geruch zuordnen. Was immer sonst mit ihm los ist, fest steht, dass er gerade bei lebendigem Leibe verwest. »Ich habe eine Flasche ZizzyFroot«, sagt sie. »Das schmeckt Ihnen bestimmt besser.« Rückwärts geht sie aus der Tür und schließt sie hinter sich, aber nicht ohne Ren einen Blick hineinwerfen zu lassen. »Er ist es«, flüstert sie. »Der Dritte, der Schlimmste!«
»Tief durchatmen«, sagt Toby. »Dir passiert nichts. Du hast das Gewehr, er nicht. Nur immer schön auf die Tür richten.«
Sie wühlt in ihrem Rucksack, findet die andere ZizzyFroot-Flasche, trinkt ein Viertel von dem warmen zuckrigen, sprudelnden Getränk:
Verschwendet nicht
. Dann füllt sie Schlafmohn und vorsichtshalber noch eine großzügige Portion Knollenblätterpilzpulver in die Flasche. Der weiße Engel des Todes, der finstere Wünsche wahr werden lässt. Wenn ihr euch zwischen zwei böse Taten entscheiden müsst, wählt die weniger böse Tat, hätte Zeb gesagt.
Mit dem Stiel des Wischmopps schiebt sie die Tür auf und leuchtet mit der Taschenlampe hinein. Und siehe da, grinsend vor Anstrengung robbt sich Blanco über den Boden. In einer Hand hält er sein Messer: Wahrscheinlich hatte er gehofft, ihr nahe genug zu kommen, um sie beim Reinkommen am Fußgelenk packen zu können. Sie zu Boden zu ziehen oder sie als Geisel zu nehmen, um an Ren zu kommen.
Verrückte Hunde beißen zu. Mehr muss man nicht wissen.
»Hier«, sagt sie. Sie rollt ihm die Flasche entgegen. Klimpernd fällt sein Messer zu Boden, als er nach der Flasche greift, den Verschluss aufschraubt und gierig trinkt. Toby möchte sich vergewissern, dass er die Flasche auch ganz leer trinkt. »Jetzt fühlen Sie sich bestimmt besser«, sagt sie sanft. Sie schließt die Tür.
»Er kommt raus!«, sagt Ren. Ihr Gesicht ist aschfahl.
»Wenn ja, erschießen wir ihn«, sagt Toby. »Ich habe ihm ein Schmerzmittel gegeben, zur Beruhigung.« Insgeheim spricht sie die Worte der Vergebung und Erlösung, wie sie es auch für einen Käfer getan hätte.
Sie wartet, bis der Schlafmohn seine Wirkung entfaltet, ehe sie erneut den Raum betritt. Blanco schnarcht heftig: Wenn ihm nicht der Schlafmohn den Rest gibt, wird es spätestens der Engel des Todes tun. Sie hebt die Decke hoch: Sein linker Oberschenkel sieht furchtbar aus − eine köchelnde Mischung aus verrottendem Stoff und verwesendem Fleisch. Sie muss sich außerordentlich zusammenreißen, um sich nicht zu übergeben.
Dann durchsucht sie den Raum nach brennbaren Gegenständen, klaubt zusammen, was sie kann − Papier, die Überreste eines zertrümmerten Stuhls. Es gibt zwar noch einen zweiten Stock, aber Blanco versperrt die Tür zu dem, was wohl die Treppe sein muss, und sie ist noch nicht bereit, so nah an ihn heranzutreten. Unter den Bäumen sucht sie nach toten Zweigen: Mithilfe des Grillanzünders und des Papiers fangen sie schließlich Feuer. Aus dem Mo’Hairknochen kocht sie eine Suppe, fügt die Pilze und
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