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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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etwas Portulak aus dem Blumenbeet hinzu; sie essen sie, im Rauch des Feuers sitzend, wegen der Mücken.
    *
    Sie klettern an einem Baum hinauf bis aufs Flachdach und schlafen dort. Auch die Rucksäcke und die anderen drei Mo’Hairbeine schleppt Toby hinauf, damit keiner auf die Idee kommt, sie über Nacht zu klauen. Das Dach ist mit Kies bestreut und nass: Sie legen die Plastikplanen unter. Die Sterne leuchten heller als hell; der Mond ist nicht zu sehen. Kurz bevor sie einschlafen, flüstert Ren: »Was ist, wenn er aufwacht?«
    »Er wird nie wieder aufwachen«, sagt Toby.
    »Ach so«, sagt Ren mit schwacher Stimme. Bewundert sie Toby, oder ist es nur die Ehrfurcht im Angesicht des Todes? Er hätte ohnehin nicht überlebt, sagt Toby zu sich, in dem Zustand. Ihn zu behandeln wäre Madenverschwendung gewesen. Dennoch, sie hat einen Mord begangen. Oder einen Akt der Gnade; zumindest war er nicht durstig gestorben.
    Mach dir doch nichts vor, Baby, sagt Zebs Stimme in ihrem Kopf. Das war Rache.
    »Möge sein Geist in Frieden gehen«, sagt sie laut. Was man so Geist nennt, du elendes Schwein.
     
    70.
Toby. Sankt Rachel und Allervögel, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Kurz vor Morgengrauen wird Toby wach. In der Ferne steht ein Löwamm, stößt sein eigentümlich klagendes Gebrüll aus. Hunde bellen. Sie bewegt erst die Arme, dann die Beine: Sie ist steif wie eine Zementplatte. Der feuchte Nebel dringt einem bis ins Mark.
    Hier kommt die Sonne, eine glühende Rose steigt aus pfirsich-farbenen Wolken empor. Das Laub der überhängenden Bäume ist von winzigen Tröpfchen bedeckt, die im anschwellenden rosa Licht leuchten. Alles sieht so frisch aus wie am ersten Tag: die Kiesel auf dem Dach, die Bäume, die Spinnweben, die sich von Ast zu Ast spannen. Die schlafende Ren scheint zu schimmern, als wäre sie von Kopf bis Fuß versilbert. Mit dem rosa UV-Mantel, der ihr ovales Gesicht umrahmt, und den Nebelperlen auf den langen Wimpern wirkt sie zerbrechlich und wie von einer anderen Welt, wie ein Wesen aus Schnee.
    Das Licht fällt direkt auf Ren, und sie schlägt die Augen auf. »Oh Mist, Mist«, sagt sie. »Ich komm zu spät. Wie viel Uhr haben wir?«
    »Du musst nirgendwo hin«, sagt Toby, und aus irgendeinem Grund müssen beide lachen.
    *
    Toby sichtet die Umgebung mit dem Fernglas. Im Osten, ihrer angestrebten Richtung, rührt sich nichts, im Westen aber steht eine Gruppe Schweine, die größte Versammlung, die sie bisher gesehen hat – sechs Ausgewachsene, zwei Junge. Sie stehen aufgereiht wie dicke Perlen, eine Kette aus Fleisch. Die Rüssel sind am Boden, sie schnüffeln, als hätten sie Witterung aufgenommen.
    Unsere Witterung, denkt Toby. Vielleicht sind es dieselben Schweine: die Racheschweine, die Begräbnisschweine. Sie steht auf, fuchtelt mit dem Gewehr in der Luft herum, schreit sie an: »Verschwindet! Verpisst euch!« Erst blicken sie nur starr, doch als sie das Gewehr in Anschlag bringt, traben sie davon und verschwinden im Wald.
    »Sieht fast aus, als wüssten sie, was ein Gewehr ist«, sagt Ren. Heute Morgen ist sie viel ruhiger. Stärker.
    »Das wissen sie allerdings«, sagt Toby.
    Sie klettern den Baum hinunter, und Toby feuert den Wasserkessel an. Es deutet zwar nichts darauf hin, dass Leute in der Nähe sind, aber ein größeres Feuer will sie nicht riskieren. Sie sorgt sich wegen des Rauchs – wird ihn jemand riechen? Zebs Regel lautete: Tiere meiden das Feuer, Menschen werden davon angezogen.
    Als das Wasser kocht, bereitet sie Tee. Dann kocht sie noch ein wenig Portulak vor. Der wird sie schön aufwärmen, bevor sie ihren morgendlichen Marsch beginnen. Später können sie sich aus den drei verbleibenden Beinen wieder eine Mo’Hairsuppe kochen.
    Bevor sie gehen, kontrolliert Toby noch einmal das Hinterzimmer des Hauses. Blanco ist kalt; er riecht noch schlimmer als vorher, wenn das überhaupt möglich ist. Sie wickelt ihn in die Decke und schleppt ihn hinaus in das umgepflügte Blumenbeet. Sie findet sein Messer auf dem Boden. Es ist scharf wie eine Rasierklinge; sie schlitzt ihm sein schmutziges Hemd auf. Ein haariger Blähbauch. Wäre sie ganz gründlich, würde sie ihm auch den Bauch aufschlitzen − die Geier wären ihr dankbar −, doch sie muss an den ekelerregenden Gestank denken, der von den Innereien des toten Ebers ausgegangen war. Die Schweine werden sich schon darum kümmern. Vielleicht sehen sie Blanco als Opfergabe und vergeben ihr das Töten eines ihrer Mitschweine. Sie lässt das Messer

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