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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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nur eben hinaus und könnte eine Weile weg sein.«
    Die Heiligen dieses Tages sind allesamt Reisende. Ach, wie gut sie wussten, dass es besser ist, zu reisen, als anzukommen, solange man nur im festen Glauben und im Dienst der guten Sache unterwegs ist. Lasst uns diesen Gedanken stets im Herzen bewahren, meine Freunde und Mitreisende.
    Es bietet sich an, nun derjenigen zu gedenken, die wir bereits auf unserer Reise verloren haben. Darren und Quill erlagen einer Krankheit, deren frühe Symptome zu großer Sorge Anlass gaben. Auf ihr Bitten hin haben wir sie zurückgelassen. Wir danken ihnen für ihre lobenswerte Rücksicht gegenüber denjenigen, die sich noch guter Gesundheit erfreuten.
    Philo ist in den Zustand der Brache eingetreten und auf dem Dach eines Parkhauses mit sich im Frieden, an einem Ort, der ihn möglicherweise an unseren lieben Dachgarten erinnert.
    Wir hätten nicht zulassen dürfen, dass Melissa so weit hinter der Gruppe hergeht. Über den Umweg eines Rudels Wildhunde hat sie nun das ultimative Geschenk an ihre Mitgeschöpfe gemacht und beteiligt sich an Gottes großem Eiweißreigen.
    Taucht sie in euren Herzen in Licht.
    Lasst uns singen.
     
    DIE ZIELGERADE
     
    Die Zielgerade kommt uns meist
    Vor wie die längste −
    Wenn Kraft und Atem schwinden, kommen
    Unsre Ängste.
     
    Sollen ausgelaugt und müde wir
    Zur Umkehr blasen,
    Am Wegesrand des Untergangs
    ein Stündlein grasen?
     
    Und den beschwerlicheren Pfad
    Hernach verlassen
    Zugunsten jener prunkvollen
    Und schnellen Straßen?
     
    Sollen Feinde unser Lebenslicht
    Und was wir haben
    Durch Krieg und Zwietracht unsre Ziele
    Untergraben?
     
    Wohlauf, ihr müden Reisenden,
    Bleibt nur nicht liegen:
    Auch wenn man unterwegs euch fällt −
    Ihr werdet siegen.
     
    Und wenn der Blick verhangen ist,
    Ihr habt die Stärke!
    Gott sieht’s und spendet Beifall unsrem
    Grünen Werke.
     
    Denn im Bemühen liegt das Ziel
    Und seine Güte,
    Denn wir sind Seine Pilger, die
    Er immerdar behüte.
     
    Aus dem
Gesangbuch der Gottesgärtner

 
    74.
Ren. Sankt
Terry
und Allerreisenden, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Als ich wach werde, sitzt Toby schon in ihrer Hängematte und streckt ihre Arme. Sie lächelt mich an: Sie lächelt mehr in letzter Zeit. Diesmal vielleicht, um mir Mut zu machen. »Welchen Tag haben wir heute?«, fragt sie.
    Ich denke einen Augenblick nach. »Sankt Terry, der heilige Reisende«, sage ich. »Allerreisenden.«
    Toby nickt. »Wir sollten eine kurze Meditation abhalten«, sagt sie. »Der Pfad, auf dem unsere Füße heute wandeln, wird ein gefährlicher sein; wir werden unseren inneren Frieden brauchen.«
    Wenn man von einem Adam oder einer Eva eine Meditation aufgegeben bekommt, hat man keine Wahl. Toby klettert aus ihrer Hängematte, und ich halte Wache, während sie sich in den Lotussitz setzt: Sie ist ganz schön gelenkig für ihr Alter. Ich kann meinen Körper zwar verbiegen wie Gummi, aber als ich dran bin, will mir die Meditation nicht gelingen. Schon die drei ersten Abschnitte schaffe ich nicht: Entschuldigung, Dankbarkeit und Vergebung − vor allem die Vergebung nicht, denn ich weiß nicht, wem ich vergeben soll. Adam Eins würde sagen, ich bin zu ängstlich und wütend.
    Also denke ich an Amanda und an alles, was sie für mich getan hat, und dass ich nie etwas für sie getan habe. Stattdessen habe ich mir erlaubt, eifersüchtig auf sie und Jimmy zu sein, obwohl sie für Jimmy überhaupt nichts konnte. Und das war unfair. Ich muss sie finden und retten vor dem, was immer ihr gerade passiert. Obwohl sie vielleicht schon ausgeweidet von einem Baum hängt, genau wie Oates.
    Aber das will ich mir gar nicht vorstellen, also stelle ich mir stattdessen vor, wie ich auf sie zugehe, denn genau das werde ich tun müssen.
    Es ist nicht nur der Körper, der auf Reisen geht, sagte Adam Eins immer, es ist auch die Seele. Am Ende einer Reise steht immer schon die nächste an.
    »Ich bin jetzt so weit«, sage ich zu Toby.
    *
    Wir essen etwas von dem getrockeneten Mo’Hairfleisch, trinken einen Schluck Wasser und verstecken die Hängematten unter einem Busch, um sie nicht tragen zu müssen. Die Rucksäcke mit dem Essen und dem anderen Zeug sollten wir allerdings mitnehmen, sagt Toby. Dann sehen wir uns um und überprüfen, ob wir auch keine Spuren hinterlassen haben. Toby kontrolliert das Gewehr. »Ich werde nur zwei Kugeln brauchen«, sagt sie.
    »Wenn du nicht danebenschießt«, sage ich. Für jeden Painballer eine Kugel: Ich stelle mir

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