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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Lehmhaus und der Küste drauf, damit sie weiß, in welche Richtung wir gehen müssen. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck − einer Art traurigem Lächeln − schaut sich Toby die Karte sehr lange an. Vielleicht lernt sie sie aber auch nur auswendig. Dann verwischt sie sie.
    Nach dem Frühstück gibt uns Rebecca etwas Dörrfleisch, und Elfenbeinspecht holt uns zwei leichtere Hängematten, denn am Boden zu schlafen ist zu gefährlich, und an dem Brunnen, den sie selbst gegraben haben, füllen sie unsere Wasserflaschen auf. Toby lässt jede Menge Zeug da − Mohnflaschen, Pilze, den Madenbehälter, die ganzen medizinischen Sachen −, nimmt dafür aber Kochtopf, Messer, Streichhölzer und ein Stück Seil mit, weil wir nicht wissen, wie lange wir unterwegs sein werden. Rebecca umarmt sie und sagt: »Pass auf dich auf, Süße«, und wir gehen los.
    Wir laufen und laufen; mittags machen wir Rast, um zu essen. Toby horcht die ganze Zeit: Zu viele Vogelrufe von der falschen Sorte, zum Beispiel Krähen − oder auch gar keine Vogelrufe −, bedeutet Augen auf, sagt sie. Aber wir hören nichts als Hintergrundzwitschern und Tschilpen. »Vogeltapete«, sagt Toby dazu.
    Wir laufen weiter, essen was, laufen weiter. Alles hängt wahnsinnig voll mit Blättern; sie nehmen einem die Luft zum Atmen. Außerdem machen sie mich nervös, weil wir bei unserem letzten Marsch durch den Wald auf Oates stießen.
    Als es dunkel wird, suchen wir uns ein paar ausreichend hohe Bäume, befestigen unsere Hängematten und legen uns schlafen. Aber ich kann nicht einschlafen. Dann höre ich Gesang. Er ist schön, aber anders als normaler Gesang − er ist glasklar, aber er hat verschiedene Schichten. Wie Glocken.
    Das Singen hört wieder auf, und ich denke schon, ich hab’s mir nur eingebildet. Und dann denke ich, das müssen die blauen Menschen gewesen sein: Das ist bestimmt ihr Gesang. Ich stelle mir vor, dass Amanda unter ihnen ist: Sie geben ihr zu essen, sie pflegen sie gesund, sie schnurren sie an und trösten sie.
    Es ist nur ausgedacht. Wunschdenken, und ich weiß, ich sollte es lieber lassen: Ich sollte der Wirklichkeit ins Auge sehen. Aber die Wirklichkeit hat zu viel Dunkelheit. Zu viele Krähen.
    Man ist, was man isst,
sagten früher die Adams und Evas, aber ich sage lieber:
Man ist, was man sich wünscht.
Denn wenn man sich nichts wünschen darf, kann man sich das Ganze doch gleich schenken.

SANKT TERRY UND ALLERREISENDEN

Jahr Fünfundzwanzig
     
    Vom Wandern
    Gesprochen von Adam Eins
     
    Liebe Freunde, liebe Mitgeschöpfe, liebe Gäste auf diesem gefahrvollen Weg, der nunmehr unser Weg durchs Leben ist:
    Wie lange ist es nun schon her seit dem letzten Sankt Terry auf unserem geliebten Dachgarten Felsen Eden! Damals hatten wir keine Vorstellung, wie gut es uns ging im Vergleich zu den dunklen Tagen, die wir heute durchleben. Damals genossen wir die Aussicht von unserem friedlichen Garten, und auch wenn dieser Blick auf Slums und Kriminalität hinausging, sahen wir das alles doch von einem Ort der Umgestaltung und Erneuerung aus, einem Ort voller unschuldig blühender Pflanzen und fleißiger Bienen. Im sicheren Glauben an den Sieg erhoben wir unsere Stimmen zum Gesang, denn unsere Ziele waren ehrbar und unsere Praktiken ohne Arg. Ja, das glaubten wir in unserer Unschuld. Viel Betrübliches ist seitdem geschehen, und doch ist der Geist von damals noch immer in uns rege.
    *
    Sankt Terry ist der Tag aller Reisenden − angeführt von Terry Fox, der mit einem sterblichen und einem metallischen Bein eine immense Strecke zurücklegte; der trotz größter Widrigkeiten von beispielhafter Tapferkeit war; der unter Beweis stellte, zu welchen Leistungen der menschliche Körper in puncto Fortbewegung ohne fossile Brennstoffe imstande ist; der einen Wettlauf gegen die Sterblichkeit antrat und am Ende den eigenen Tod überholte und unvergessen bleibt.
    An diesem Tag gedenken wir auch der heiligen Sojourner Truth, Anführerin der geflohenen Sklaven, die vor zwei Jahrhunderten einen immensen Fußmarsch zurücklegte und sich dabei nur an den Sternen orientierte; und der heiligen Shackleton und Crozier, Helden der Antarktis und Arktis; sowie des heiligen Laurence »Titus« Oates von der Expedition des Kapitäns Scott, der an einen Ort marschierte, wo noch keiner vor ihm gewesen war, und der sich für das Wohl seiner Kameraden in einem Schneesturm opferte. Seine unsterblichen Worte mögen uns als Inspiration auf unserer eigenen Reise dienen: »Ich gehe

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