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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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gewöhnt. »Willst du dir nicht die Haare wachsen lassen?«, sagte Nuala. »Kahl, wie du bist. Wir Gärtnerfrauen tragen alle unsere Haare lang.« Als sich Toby nach dem Grund dafür erkundigte, gab man ihr zu verstehen, dass es Gottes bevorzugte Ästhetik sei. Diese lächelnde, besserwisserische Scheinheiligkeit war für Tobys Geschmack etwas zu verbreitet, vor allem unter den weiblichen Sektenmitgliedern.
    Von Zeit zu Zeit spielte sie mit dem Gedanken zu desertieren. Zum einen wurde sie regelmäßig von schändlichen Gelüsten nach tierischen Eiweißen übermannt. »Hast du nicht auch manchmal Lust auf einen GeheimBurger?«, fragte sie Rebecca. Rebecca stammte aus ihrer früheren Welt: Mit ihr konnte man über so etwas reden.
    »Ja, muss ich zugeben«, sagte Rebecca, »manchmal schon. Die tun da irgendwas rein − anders kann ich mir das nicht erklären. Irgendwelche Süchtigmacher.«
    Das Essen schmeckte nicht schlecht − in Anbetracht der knappen Auswahl an Zutaten gab Rebecca sich wirklich alle Mühe −, aber es war immer dasselbe. Hinzu kam, dass die Gebete langweilig, die Theologie verworren war − was sollte diese Pingeligkeit bei der Lebensführung, wenn man ohnehin damit rechnete, dass es mit der Menschheit in Kürze aus und vorbei war? Die Gärtner glaubten an eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe, auf die es für Tobys Begriffe wenig konkrete Hinweise gab. Vielleicht lasen sie ja aus Vogelinnereien die Zukunft.
    Aufgrund von Überbevölkerung und der Schlechtigkeit des Menschen stand also ein massives Sterben bevor, von dem sich die Gärtner jedoch ausnahmen: Sie hatten die Absicht, mithilfe der gehorteten Lebensmittel in versteckten Vorratsräumen, ihren sogenannten Ararats, auf der wasserlosen Flut zu treiben. Was die Schwimmvorrichtung anging, auf der sie diese Flut zu überdauern gedachten, würden sie selbst als ihre eigenen Archen dienen mitsamt einem Vorrat eigener innerer Tiere oder zumindest den Namen dieser Tiere. Auf diese Weise wollten sie überleben, um die Erde von neuem zu füllen. Oder so ähnlich.
    Toby fragte Rebecca, ob sie den Gärtnern ihr Supergau-Gemunkel wirklich abnehme, aber Rebecca verhielt sich neutral. »Es sind gute Menschen«, sagte sie nur. »Was kommen wird, wird kommen, also kann ich nur sagen, entspann dich.« Und damit reichte sie Toby einen Honig-Soja-Donut.
    Ob gute Menschen oder nicht, Toby konnte sich nicht vorstellen, wie sie es inmitten dieser Wirklichkeitsflüchtlinge noch lange aushalten sollte. Aber sie konnte ja nicht einfach vor aller Augen davonspazieren. Das wäre zu eklatant undankbar: Immerhin hatten diese Leute sie gerettet. Also malte sie sich aus, wie sie über die Feuerleiter, vorbei an der Schlafetage und der Pachinko-Halle und dem Massagesalon nach unten schlüpfen, im Schutz der Dunkelheit loslaufen und in irgendeine nördlich gelegenere Stadt trampen würde. Fliegen kam nicht in Frage, da viel zu teuer und unter strenger Kontrolle des CorpSeCorps. Den Torpedozug konnte sie auch nicht nehmen, selbst wenn sie das Geld dafür gehabt hätte − es gab Ausweiskontrollen, und einen Ausweis besaß sie nicht.
    Und das war noch nicht alles; unten in den Plebsstraßen war Blanco bestimmt noch auf der Suche nach ihr − zusammen mit seinen beiden Schlägern. Keine Frau war ihm jemals durch die Lappen gegangen, damit hatte er immer geprotzt. Früher oder später würde er sie aufspüren, und dann würde sie büßen müssen. Der Tritt damals würde teuer werden. Es bräuchte schon eine öffentliche Gruppenvergewaltigung oder ihren aufgespießten Kopf, um die Sache aus der Welt zu schaffen.
    Konnte es sein, dass er nicht wusste, wo sie war? Nein: Die Plebsrattengangs mussten es doch mitbekommen und wie jedes andere Gerücht an ihn verkauft haben. Sie hatte sich von der Straße ferngehalten, aber was würde Blanco daran hindern, über die Feuertreppe aufs Dach zu kommen und sie zu holen? Schließlich gestand sie Adam Eins ihre Angst. Er wusste über Blanco Bescheid und wozu er in der Lage war − er hatte ihn ja selbst in Aktion gesehen.
    »Ich möchte die Gärtner nicht gefährden«, so drückte Toby es aus.
    »Meine Liebe«, sagte Adam Eins. »Bei uns bist du sicher. Zumindest einigermaßen.« Blanco gehöre zur Plebsbande von Sewage Lagoon, erklärte er, und die Gärtner seien nebenan, in Sinkhole. »Anderer Plebs, andere Bande«, sagte er. »Keiner wagt sich auf fremdes Gebiet außer für einen Bandenkampf. Auf jeden Fall hat das CorpSeCorps die

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