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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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wieder hoch. Wo steckten seine beiden Leibwächter? Sie waren nirgends zu sehen.
    Toby fühlte sich eigentümlich beschwingt. Dann trat sie Blanco gegen den Kopf. Sie dachte gar nicht darüber nach. Sie merkte, dass sie grinste wie ein Hund, sie spürte, wie ihr Fuß auf seinen Schädel traf: Er fühlte sich an wie ein Stein in einem Handtuch. Kaum war es geschehen, wurde ihr klar, welchen Fehler sie gemacht hatte. Wie konnte sie nur so dumm sein?
    »Komm mit, meine Liebe«, sagte Adam Eins und packte sie am Ellenbogen. »Es ist das Beste. Deinen Job bist du ohnehin los.«
    Blancos Kumpanen waren wieder aufgetaucht und schlugen die Plebsratten in die Flucht. Obwohl er reichlich mitgenommen war, hatte er die Augen offen und auf Toby gerichtet. Er hatte diesen Tritt gespürt; schlimmer noch, er war in aller Öffentlichkeit von ihr gedemütigt worden. Er hatte sich zum Affen gemacht. Im nächsten Moment würde er aufstehen und sie gründlich vermöbeln. »Du Nutte«, krächzte er. »Ich schneid dir die Titten ab!«
    Da wurde Toby von einem Haufen Kinder umringt. Zwei davon nahmen sie an den Händen, die anderen bildeten vorn und hinten einen Schutztrupp. »Schnell, schnell«, sagten sie und zogen und schoben sie die Straße hinunter.
    Von hinten brüllte eine Stimme: »Komm sofort zurück, du
    Nutte!«
    »Schnell, hier lang«, sagte der größte Junge. Mit Adam Eins als Rückendeckung trabten sie durch die Straßen von Sewage Lagoon. Die Leute glotzten wie bei einem Festzug. Zusätzlich zu ihrer panischen Angst fühlte sich Toby wie im Traum, und ihr war leicht schwindlig.
    Jetzt lichtete sich die Menge, und die Gerüche wurden weniger penetrant; weniger Schaufenster waren verrammelt. »Schneller«, sagte Adam Eins. Sie rannten durch eine Gasse und bogen mehrfach um die Ecke, und das Gebrüll ließ nach.
    Sie kamen an eine rote Backsteinfabrik aus der frühen Moderne. An der Gebäudefront befand sich ein Schild mit der Aufschrift »Pachinko« und darunter ein kleineres mit »Stardust Individuelle Massagen, Zweiter Stock, Für jeden Etwas, Nasennummern auf Anfrage«. Die Kinder umrundeten das Gebäude und stiegen über die Feuertreppe hinauf, und Toby folgte ihnen. Sie war aus der Puste, die Kinder dagegen waren flink wie Affen. Als sie das Dach erreicht hatten, sagte jedes Kind: »Willkommen in unserem Garten«, umarmte sie und hüllte sie in ihren süß-salzigen ungewaschenen Duft.
    Toby konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt von einem Kind umarmt worden war. Für die Kinder war die Umarmung offenbar eine Formalität, ähnlich wie man eine entfernte Tante umarmt, für Toby dagegen war es etwas Undefinierbares: flauschig, auf sanfte Weise intim. Wie kuschelnde Kaninchen. Kaninchen allerdings, die vom Mars kamen. Dennoch war sie gerührt: Es war eine unpersönliche, aber gut gemeinte, gänzlich unsexuelle Berührung. Wenn man bedenkt, welches Leben sie in letzter Zeit geführt hatte, immer nur Blancos Hände auf ihr, muss ihr Befremden wohl unter anderem auch darauf zurückzuführen gewesen sein.
    Auch die Erwachsenen streckten ihr grüßend die Hände entgegen − Frauen in dunklen sackartigen Kleidern, Männer in Latzhosen −, und auf einmal entdeckte sie Rebecca. »Du hast’s geschafft, Süße«, sagte sie. »Ich hab’s ja gesagt! Ich wusste, die holen dich da raus!«
    Der Garten entsprach nicht im Geringsten dem, was Toby vom Hörensagen erwartet hatte. Es war kein sonnenverbranntes Stück Erde mit etwas kümmerlichem Gemüse − im Gegenteil. Sie blickte sich staunend um: Er war unglaublich schön, voller Pflanzen und Blumen, die sie noch nie gesehen hatte. Bunte Schmetterlinge flatterten umher, irgendwo summten Bienen. Jede Blüte und jedes Blatt war voller Leben, glänzte ihr entgegen. Selbst die Luft in diesem Garten war anders.
    Sie musste weinen vor Erleichterung und Dankbarkeit. Es war, als wenn eine große gütige Hand nach ihr gegriffen und sie hochgehoben hätte, um sie schützend an sich zu drücken. Später hörte sie Adam Eins häufig davon sprechen, wie etwas »vom Licht der Schöpfung Gottes überflutet« werde, und noch ohne es zu wissen, war es genau das Gefühl, das sie hatte.
    »Ich bin so froh, dass du diese Entscheidung getroffen hast, meine Liebe«, sagte Adam Eins.
    Toby war nicht der Meinung, überhaupt eine Entscheidung gefällt zu haben. Die Entscheidung war für sie gefällt worden. Trotz allem, was danach geschah, blieb dieser Moment für sie unvergesslich.
    *
    An jenem ersten

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