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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Amanda ein Kätzchen, das ich zurücklassen musste.
    »Niemals«, sagte ich. »Wenn sie nicht mitkann, geh ich nicht!«
    »Und wo willst du wohnen?«, fragte Lucerne verächtlich.
    »Wir bleiben bei Zeb«, sagte ich.
    »Der ist doch nie zu Hause«, sagte Lucerne. »Du glaubst doch wohl nicht, dass sie zwei jungen Mädchen erlauben, hier allein ihr Lager aufzuschlagen?«
    »Dann wohnen wir eben bei Adam Eins«, sagte ich. »Oder bei Nuala. Oder vielleicht bei Katuro.«
    »Oder bei Stuart dem Schrauber«, sagte Amanda hoffnungsvoll. Das sagte sie aus Verzweiflung − Stuart war ein Griesgram und Einzelgänger −, aber ich griff die Idee auf.
    »Wir könnten ihm beim Möbelbauen helfen«, sagte ich. Ich hatte das ganze Szenario schon vor Augen − wie Amanda und ich für Stuart Sperrmüll suchen und sägen und hämmern und bei der Arbeit vor uns hin singen und Kräutertee kochen …
    »Ihr wärt nicht willkommen«, sagte Lucerne. »Stuart ist ein Misanthrop. Er duldet euch Kinder nur wegen Zeb, und mit den anderen ist es genauso.«
    »Wir wohnen bei Toby«, sagte ich.
    »Toby hat andere Sorgen. Jetzt reicht’s. Wenn Amanda niemanden findet, bei dem sie wohnen kann, kann sie ja immer noch zurück zu den Plebsratten. Da gehört sie schließlich hin. Du aber nicht. Jetzt mach schon.«
    »Ich muss mich erst anziehen«, sagte ich.
    »Gut«, sagte Lucerne. »Zehn Minuten.« Sie verließ die Kabine.
    »Was machen wir denn jetzt?«, flüsterte ich Amanda zu, während ich anfing, mich anzuziehen.
    »Ich weiß nicht«, flüsterte Amanda zurück. »Wenn du da einmal drin bist, lässt sie dich nie wieder raus. Diese Konzernkomplexe sind wie ’ne Festung, wie ’n Gefängnis. Wir dürfen uns bestimmt nie wiedersehen. Sie hasst mich.«
    »Ist mir egal, was sie denkt«, flüsterte ich. »Ich komm da schon irgendwie wieder raus.«
    »Mein Telefon«, flüsterte Amanda. »Nimm’s mit. Dann kannst du mich anrufen.«
    »Ich hol dich irgendwie da rein«, sagte ich. Inzwischen hatte ich angefangen, lautlos zu weinen. Ich steckte ihr lila Telefon ein. »Beeil dich, Ren«, sagte Lucerne.
    »Ich ruf dich an!«, flüsterte ich. »Mein Vater kauft dir einen Ausweis!«
    »Klar doch«, sagte Amanda leise. »Lass dich nicht verarschen, ja?«
    *
    Im großen Zimmer lief Lucerne wie wild hin und her. Den kümmerlichen Tomatenstrauch, den sie auf der Fensterbank gezüchtet hatte, kippte sie in den Müll. In der Blumenerde war eine Plastiktüte voller Geld. Sie musste es von den Verkäufen beim Baum des Lebens abgezweigt haben − Seife, Essig, Makrameesachen, Bettdecken. Bargeld war etwas Altmodisches, aber zum Bezahlen von Kleinigkeiten wurde es immer noch benutzt, und virtuelles Geld nahmen die Gärtner nicht an, denn Computer waren bei ihnen ja verboten. So hatte sie also ihr Fluchtgeld zur Seite gelegt. Sie war wohl doch nicht so ein Fußabtreter, wie ich dachte.
    Dann nahm sie die Küchenschere und schnitt sich die langen Haare ab. Das Schneiden hörte sich an, wie wenn man einen Klettverschluss öffnet − kratzig und trocken. Sie ließ den Haufen Haare mitten auf dem Esstisch liegen.
    Dann packte sie mich am Arm und zerrte mich aus unserer Wohnung und die Treppe runter. Abends ging sie nie auf die Straße, wegen der Besoffenen und der Junkies an den Straßenecken und wegen der Plebsrattengangs und Diebe. Aber in dem Moment war sie dermaßen geladen, dass sie fast schon knisterte. Die Leute auf der Straße machten uns Platz, als hätten wir eine ansteckende Krankheit, und sogar die Asian Fusions und die Blackened Redfish ließen uns in Ruhe.
    Wir brauchten Stunden, um uns durch Sinkhole und Sewage Lagoon und dann durch die reicheren Plebs zu schlagen. Beim Vorbeilaufen wurden die Häuser, Gebäude und Hotels immer neuer und die Straßen immer leerer. In Big Box nahmen wir uns ein SolarTaxi: Wir fuhren durch Golfgreens, dann vorbei an einem großen Stück offenes Land und hielten irgendwann direkt vor den Toren des HelthWyzer-Komplexes. Ich hatte diesen Ort so lange nicht gesehen, dass er mir vorkam wie aus einem dieser Träume, in denen man nichts erkennt und gleichzeitig alles. Mir war ein bisschen schlecht, aber das war vielleicht die Aufregung.
    Bevor wir in das Taxi stiegen, hatte mir Lucerne die Haare verwuschelt und sich Dreck ins Gesicht geschmiert und ihr Kleid an ein paar Stellen zerrissen. »Was soll das?«, fragte ich. Aber sie antwortete nicht.
    *
    Zwei Wachmänner standen am HelthWyzer-Tor hinter dem kleinen Fensterchen.

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