Das Jahr der Flut
Schlafkabine.
Amanda ging sofort ran. Da war sie auf dem Bildschirm, genau wie immer. Ich sehnte mich zurück nach den Gärtnern.
»Du fehlst mir total«, sagte ich. »Sobald ich kann, lauf ich weg.« Nur wüsste ich nicht, wann das sein würde, sagte ich, weil Lucerne meinen Ausweis in eine Schublade eingeschlossen hatte, und ohne Ausweis wurde man nicht aus dem Tor gelassen.
»Kannst du nicht tauschen?«, fragte Amanda. »Mit den Wachmännern?«
»Nein«, sagte ich. »Glaub nicht. Das funktioniert hier nicht.«
»Ach so. Was ist denn mit deinen Haaren?«
»Lucerne hat mich gezwungen, zum Friseur zu gehen.«
»Sieht aber nicht schlimm aus«, sagte Amanda. Dann sagte sie: »Sie haben Burt gefunden, auf dem leeren Grundstück hinter dem Scales. Er hatte Frostbrand.«
»Er lag in einem Gefrierschrank?«
»Das, was von ihm noch übrig war. Es fehlte auch was − Leber, Nieren, Herz. Zeb meint, die Mafialeute verkaufen die Organe, und den Rest stecken sie ins Gefrierfach, falls sie irgendjemandem mal einen kleinen Gruß schicken wollen.«
»Ren! Wo bist du?« Es war Lucerne − in meinem Zimmer.
»Ich muss auflegen«, flüsterte ich. Ich steckte das Telefon zurück in den Tiger. »Hier drin«, sagte ich. Ich klapperte mit den Zähnen. In Gefrierschränken war es wahnsinnig kalt.
»Was machst du denn da im Kleiderschrank, Liebling?«, fragte Lucerne. »Komm, es gibt Mittagessen! Danach geht’s dir wieder besser.« Sie klang aufgekratzt: Je verrückter und verstörter ich mich benahm, desto besser für sie, denn umso weniger würde man mir glauben, wenn ich sie verriet. Angeblich war ich traumatisiert von meiner Zeit bei der Sekte mit ihrer ganzen verschrobenen Gehirnwäsche. Na ja, vielleicht war ich wirklich traumatisiert: Ich hatte ja keinen Vergleich.
40.
Als ich mich auf die neue Situation
eingestellt
hatte − eingestellt sagten sie dazu, als wäre ich ein Träger an einem BH −, schickte mich Lucerne in die Schule, weil es nicht gut für mich sei, den ganzen Tag im Haus zu sitzen und Trübsal zu blasen: Ich müsse raus und ein ganz neues Leben anfangen, genau wie sie. Ich war ein Risiko für sie − eine wandelnde Streubombe, die jederzeit mit der Wahrheit rausplatzen könnte. Sie wusste, dass ich sie im Stillen verurteilte, und das ärgerte sie, also wollte sie mich vor allem vom Hals haben.
Frank hatte ihr ihre Geschichte wohl abgenommen, wobei es ihm ohnehin egal zu sein schien. Jetzt konnte ich nachvollziehen, wie Lucerne ihn für Zeb verlassen konnte: Zeb hatte sie immerhin zur Kenntnis genommen. Und auch mich hatte er zur Kenntnis genommen, während Frank mich eher wie ein Fenster behandelte: Er sah mich nie an, immer nur durch mich hindurch.
Ab und zu träumte ich von Zeb. Er trug ein Bärenkostüm, das Fell hatte in der Mitte einen Reißverschluss wie ein Schlafsack, und aus dem trat er dann heraus. Er roch beruhigend in meinem Traum − nach regennassem Gras und Zimt und nach dem salzigen, essigsauren, verbrannten Blätterduft der Gärtner.
*
Die Schule hieß HelthWyzer-High. Am ersten Tag zog ich ein paar von den neuen Sachen an, die Lucerne mir besorgt hatte. Rosa und zitronengelb − Farben, wie sie die Gärtner niemals zugelassen hätten, weil man jeden Schmutzfleck darauf sah und Waschmittel verschwenden würde.
In meinen neuen Sachen fühlte ich mich wie verkleidet. Ich konnte mich nicht daran gewöhnen, wie eng alles saß, verglichen mit meinen alten weiten Kleidern, und wie meine Arme aus den Ärmeln und meine nackten Beine aus dem knielangen Faltenrock guckten. Aber das trug man als Mädchen auf der HelthWyzer-High, behauptete Lucerne.
»Nicht die Sonnencreme vergessen, Brenda«, sagte sie, als ich gerade aus der Tür wollte. Sie nannte mich jetzt nur noch Brenda: Das sei angeblich mein richtiger Name.
HelthWyzer schickte eine Schülerin vorbei, die mit mir zusammen zur Schule laufen und mir alles zeigen sollte. Sie hieß Wakulla Price; sie war dünn und hatte glatte karamellbraune Haut. Sie trug ein ähnlich pastellgelbes Oberteil wie ich, aber Hosen. Mit großen Augen starrte sie auf meinen Faltenrock. »Schöner Rock«, sagte sie.
»Hat mir meine Mutter gekauft«, sagte ich.
»Ach so«, sagte sie mitfühlend. »So einen hat mir meine Mutter vor zwei Jahren auch mal gekauft.« Dafür mochte ich sie.
Auf dem Weg zur Schule sagte Wakulla:
Was macht dein Vater, seit wann seid ihr hier
und so weiter, aber ohne das Thema Sekten anzuschneiden; und ich sagte:
Wie
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