Das Jahr der Flut
ich ihm wie eine der Plebsratten vorgekommen sein, die er bestimmt in Sinkhole oder Sewage Lagoon hatte rumlaufen sehen, falls es ihn je dorthin verschlagen hatte. Vielleicht hatte er Angst, ich würde ihn ausrauben oder ihm die Schuhe klauen. Er kam auf mich zu, als wäre ich bissig, und nahm mich unbeholfen in den Arm. Er roch nach komplexen Chemikalien − Chemikalien, wie man sie zum Lösen von Klebstoff benutzt. Ein Geruch, der sich einem in die Lungen brannte.
In dieser ersten Nacht schlief ich zwölf Stunden, und beim Aufwachen stellte ich fest, dass Lucerne mir meine Gärtnerklamotten weggenommen und sie verbrannt hatte. Zum Glück hatte ich Amandas lila Telefon in meinem Plüschtiger im Kleiderschrank versteckt − ich hatte ihm den Bauch aufgeschlitzt.
Ich vermisste den Geruch meiner eigenen Haut, die ihren salzigen Geschmack verloren hatte und jetzt nach Seife und Parfüm duftete. Ich dachte an das, was Zeb immer über Mäuse sagte − wenn man sie für eine Weile aus dem Mäusenest nimmt und dann wieder reinsetzt, werden sie von den anderen Mäusen in Stücke gerissen. Wenn ich mit meinem künstlichen Blumenduft zurück zu den Gärtnern ginge, würden sie mich dann in Stücke reißen?
*
Lucerne ging mit mir in die HelthWyzer-Privatklinik, um mich auf Kopfläuse und Würmer untersuchen zu lassen und auf Missbrauch. Man bekam also hinten und vorne ein paar Finger reingesteckt. »Ach du meine Güte«, sagte der Arzt beim Anblick meiner blauen Haut. »Sind das etwa blaue Flecken, Kleines?«
»Nein«, sagte ich. »Das ist Farbe.«
»Ach so«, sagte er. »Ihr musstet euch einfärben?«
»Die ist in den Kleidern«, sagte ich.
»Verstehe«, sagte er. Dann gab er mir einen Termin bei der Psychiaterin der Privatklinik, die Erfahrung hatte mit Sektenentführungsopfern. Auch meine Mutter musste mit zu diesen Sitzungen.
Und so fand ich heraus, was Lucerne den Leuten erzählte. Beim Bummel durch die Boutiquen von SolarSpace waren wir angeblich von der Straße weggeschnappt worden, aber wann das genau war, konnte sie nicht sagen, weil sie es nie hatte erfahren dürfen. Sie sagte, die Sekte selbst sei nicht schuld gewesen − es war eines der männlichen Mitglieder, das von ihr besessen war und sie zu seiner persönlichen Sexsklavin machen wollte, er hatte ihr die Schuhe weggenommen, um sie an der Flucht zu hindern. Damit war anscheinend Zeb gemeint, wobei sie sagte, sie wüsste seinen Namen nicht. Ich sei zu klein gewesen, um das alles zu verstehen, sagte sie, aber ich sei als Geisel genommen worden − sie hätte diesem Verrückten zu Willen sein müssen, jedem seiner noch so perversen Gelüste nachkommen müssen, es war abscheulich, zu was er sie gezwungen hatte −, sonst wäre mein Leben in Gefahr gewesen. Aber irgendwann hatte sie einem anderen Sektenmitglied ihr Leid klagen können − einer Art Nonne. Damit war wohl Toby gemeint. Diese Frau sei es gewesen, die ihr zur Flucht verholfen hätte − ihr Schuhe besorgt, ihr Geld gegeben, den Verrückten abgelenkt, bis Lucerne sich in einer Nacht-und Nebelaktion befreien konnte.
Mir Fragen zu stellen sei sinnlos, sagte sie. Die Sektenmitglieder hätten mich gut behandelt, zudem waren sie hintergangen worden. Sie hatte als Einzige die Wahrheit gekannt: Diese Last hatte sie ganz allein tragen müssen. Welche Frau, die ihr Kind liebt wie sie mich, hätte nicht genauso gehandelt?
Vor jeder unserer psychiatrischen Sitzungen drückte sie mir die Schulter und sagte: »Amanda ist immer noch bei ihnen. Vergiss das nicht.« Das heißt, wenn ich jemandem von ihren haarsträubenden Lügen erzählte, würde ihr ganz plötzlich wieder einfallen, wo sie eingesperrt gewesen war, und dann würde das CorpSeCorps mit seinen Spraygewehren das Haus stürmen, und wer weiß, was dann? Immer wieder kamen auch Schaulustige bei Spraygewehr-Angriffen ums Leben. Kann man nichts machen, sagte das CorpSeCorps. Es war im Interesse der öffentlichen Ordnung.
*
Wochenlang schlich Lucerne um mich herum, um sich zu vergewissern, dass ich keine Anstalten machte, zu fliehen oder sie zu verpfeifen. Aber endlich kam meine Chance, Amandas lila Telefon rauszuholen und sie anzurufen. Amanda hatte mir eine SMS mit der Nummer ihres neuen gefilzten Telefons geschickt, also wusste ich, wie ich sie erreichen konnte − sie hatte an alles gedacht. Ich setzte mich in meinen Schrank, um zu telefonieren. Wie alle Schränke im Haus war er beleuchtet. Allein der Schrank war so groß wie meine frühere
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