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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Niemand wollte zugeben, dass er Bescheid wusste. Wurde von anderen das Thema angeschnitten, blendete man sie aus, denn ihre Behauptungen waren sowohl völlig offensichtlich als auch völlig undenkbar.
    Wir brauchen die Erde auf. Sie ist fast erschöpft.
Man kann nicht mit solchen Ängsten leben und dabei munter weiterpfeifen. Das Warten steigt in einem auf wie die Flut. Man fängt an, sich zu wünschen, es wäre endlich überstanden. Man ertappt sich dabei, wie man in den Himmel blickt und sagt:
Mach einfach. Mach das Schlimmste, was dir einfällt. Bringen wir’s hinter uns.
Sie spürte, wie ihr das kommende Beben wie ein Schauer über den Rücken lief, egal ob sie schlief oder wachte. Es hörte nie auf, nicht einmal, als sie bei den Gärtnern war. Vor allem nicht, als sie − immer länger − bei den Gärtnern war.
     
    44.
     
    Der Sonntag nach dem Schlangenfest war Sankt Jacques Cousteau. Es war das Jahr Achtzehn − das Jahr der Entzweiung, auch wenn Toby davon noch nichts ahnte. Sie erinnert sich, wie sie durch die Straßen von Sinkhole zur Wellness-Klinik zur regulären Sonntagabendversammlung der Adams und Evas unterwegs war. Sie freute sich überhaupt nicht darauf: In letzter Zeit waren diese Treffen immer in Streitigkeiten abgeglitten.
    In der Woche zuvor hatten sie ihre ganze Zeit mit theologischen Fragen vertan. Zunächst war da die Sache mit Adams Gebiss gewesen.
    »Adams Gebiss?«, war Toby herausgeplatzt. Sie musste unbedingt daran arbeiten, mit ihrer Verblüffung mehr an sich zu halten, am Ende würde sie noch als Kritik aufgefasst.
    Adam Eins hatte erklärt, dass einige der Kinder verunsichert seien, nachdem Zeb ihnen den Unterschied zwischen den beißenden, reißenden Zähnen der Fleischfresser und den mahlenden, kauenden Zähnen der Pflanzenfresser erklärt hatte. Die Kinder wollten wissen, warum das menschliche Gebiss beide Merkmale aufwies − da Adam doch bestimmt als Vegetarier geschaffen worden war.
    »Hätte er gar nicht erst mit anfangen sollen«, hatte Stuart gemurmelt.
    »Nach dem Sündenfall haben wir uns verändert«, hatte Nuala mit fröhlicher Stimme gesagt. »Wir haben uns weiterentwickelt. Nachdem der Mensch zum Fleischfresser wurde, nun ja, da hat er sich natürlich …«
    Damit spanne man den Karren vor das Pferd, sagte Adam Eins; man rücke dem Ziel, wissenschaftliche Erkenntnisse mit ihrer sakramentalen Sicht des Lebens in Einklang zu bringen, nicht näher, indem man sich einfach über die Gesetze der Wissenschaft hinwegsetze. Er bat sie, über diese rätselhafte Frage nachzudenken und zu einem späteren Zeitpunkt Lösungsvorschläge vorzubringen.
    Danach wandten sie sich dem Problem der Kleidung aus Tierhäuten zu, mit denen Adam und Eva im ersten Buch Mose am Ende des dritten Kapitels ausgestattet wurden. Die leidige Sache mit den »Röcken von Fellen«.
    »Das lässt den Kindern keine Ruhe«, hatte Nuala gesagt. Was Toby nachvollziehen konnte. Sollte Gott etwa einige seiner geliebten Geschöpfe getötet und gehäutet haben, um diese Felle herzustellen? Wenn ja, wäre er ein sehr schlechtes Vorbild für den Menschen. Aber wenn nicht, woher stammten diese Felle?
    »Vielleicht sind die Tiere ja eines natürlichen Todes gestorben«, schlug Rebecca vor. »Und Gott wollte sie nicht verschwenden.« Resteverwertung war auch ihr großes Thema.
    »Vielleicht waren es sehr kleine Tiere«, hatte Katuro gesagt. »Mit kurzer Lebensdauer.«
    »Das wäre eine Möglichkeit«, hatte Adam Eins erwidert. »Dabei wollen wir es belassen, bis sich eine plausiblere Erklärung findet.«
    Noch am Anfang ihrer Evaschaft hatte Toby einmal gefragt, ob derlei theologische Haarspalterei unbedingt nötig sei, und Adam Eins hatte erwidert, ja, durchaus. »In Wahrheit ist es so«, sagte er damals, »dass den meisten Menschen andere Lebewesen gleichgültig sind, vor allem in schweren Zeiten. Alles, was sie kümmert, ist ihre nächste Mahlzeit, was ja ganz natürlich ist: Wir müssen essen, sonst sterben wir. Aber was, wenn uns Gott versorgt? Wir haben uns dahin entwickelt, an Götter zu glauben, dieser Hang zur Gläubigkeit muss uns also einen evolutionären Vorteil verschafft haben. Die streng materialistische Sicht − dass wir ein Experiment seien, das das tierische Eiweiß mit sich selbst anstellt − ist den meisten Menschen viel zu harsch und einsam, und sie führt zu Nihilismus. Von daher müssen wir das Gefühl der Allgemeinheit in eine biosphärenfreundliche Richtung lenken, indem wir auf die Gefahren

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