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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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lassen. Sie könnte sich eine richtige Maniküre gönnen; Kosmetikvorräte gibt es hier in Hülle und Fülle, ganze Regale stehen damit voll. AnuYu-Tiefenreinigung, AnuYu-Pfirsichhaut-Aufpolsterer, AnuYu-Jungbrunnen-Komplettimmersion: Schäl Dich Schön! Aber wozu sich die Mühe machen mit Reinigen, Polstern und Schälen? Andererseits − wozu die Mühe scheuen? Jede Entscheidung ist gleichermaßen sinnlos.
    Zurück zur Tugend!
war damals der Slogan. Ich könnte ein ganz neues Ich bekommen, denkt Toby. Noch einmal ein neuer Mensch werden, frisch gehäutet wie eine Schlange. Das wäre jetzt schon das wievielte Mal?
    *
    Sie stapft die Treppe hinauf aufs Dach, hebt das Fernglas, wirft einen Blick über ihr sichtbares Reich. Dort in den Gräsern am Waldrand rührt sich etwas: Ob es wieder die Schweine sind? Wenn ja, halten sie sich jedenfalls bedeckt. Noch immer scharen sich die Geier um den toten Eber. Inzwischen werden jede Menge Nanobioformen am Werk sein: Es gärt bestimmt schon.
    Aber hier ist mal was anderes. Unweit vom Gebäude grast eine Handvoll Schafe. Es sind fünf Stück: drei Mo’Hairschafe − grün, rosa und helllila − und zwei andere, die eher konventionell aussehen. Die langen Haare der Mo’Hairschafe sind in keinem guten Zustand − verfilzt und voller Zweige und altem Laub. In den Reklamespots war das Haar immer glänzend − erst sah man, wie das Schaf die Haare zurückwirft, dann ein hübsches Mädchen, das die gleiche Haarmähne zurückwirft.
Mo’Hair macht mehr her!
Aber ohne Kurspülung eben längst nicht so viel.
    Die Schafe drängen sich zusammen, heben die Köpfe. Toby sieht, warum; tief unten im Gras liegen zwei Löwämmer auf der Lauer. Vielleicht haben die Schafe ihre Witterung aufgenommen, doch der Duft muss verwirrend sein − halb Löwe, halb Lamm.
    Das lila Mo’Hairschaf ist am nervösesten.
Bloß nicht ins Beute
schema passen,
denkt Toby. Und tatsächlich ist es das lila Schaf, auf das die Löwämmer losgehen. Sie trennen es von seiner Gruppe und jagen es über eine kurze Strecke. Das traurige Tier ist durch seine Frisur stark beeinträchtigt − es sieht aus wie eine lila Perücke auf Beinen −, und die Löwämmer bringen es schnell zu Fall. Sie brauchen eine Weile, um unter all dem dichten Haar die Kehle zu finden, und das Mo’Hairschaf rappelt sich mehrmals hoch, bevor die Löwämmer ihm den Rest geben. Dann lassen sie sich zum Fressen nieder. Die anderen Schafe sind unter aufgeregtem Blöken unbeholfen davongelaufen, grasen aber schon wieder weiter.
    Sie hatte eigentlich im Garten arbeiten wollen, etwas Gemüse ernten: Ihr Vorrat an Konserven und Trockennahrung nimmt ab wie der Mond. Doch wegen der Löwämmer entscheidet sie sich dagegen. Katzen aller Art greifen aus dem Hinterhalt an: Die eine tummelt sich auf dem freien Feld und lenkt einen ab, während die andere sich leise von hinten anschleicht.
    *
    Am Nachmittag hält sie ein Nickerchen. Der Vollmond zieht die Vergangenheit an, hatte Pilar gesagt. Was immer aus den Schatten hervortritt, sollte man als Segen betrachten. Und tatsächlich, die Vergangenheit kehrt zurück: Das weiße Holzhaus ihrer Kindheit, die ganz normalen Bäume, der blau getönte Wald im Hintergrund, als herrschte Nebel. Ein Reh hebt sich dagegen ab, steht starr und mit gespitzten Ohren wie ein Rasenornament. Ihr Vater gräbt mit einer Schaufel drüben bei dem Stapel Zaunlatten; ihre Mutter ist nur kurz hinter dem Küchenfenster zu sehen. Vielleicht kocht sie eine Suppe. Alles ist ruhig, als würde es niemals enden. Aber wo ist Toby in diesem Bild? Denn es ist ein Bild. Es ist flach wie ein Bild an der Wand. Sie fehlt.
    Sie schlägt die Augen auf: Ihre Wangen sind nass von Tränen. Ich war deshalb nicht auf dem Bild, weil ich der Rahmen bin. Es war gar nicht die Vergangenheit. Das war nur ich selbst, ich halte alles zusammen. Es ist nur eine Handvoll verblassender Nervenpfade. Nur ein Trugbild.
    Bestimmt war ich ein optimistischer Mensch damals, denkt sie. Damals und dort. Ich wachte auf mit einem Pfeifen auf den Lippen. Ich wusste, dass auf der Welt schlimme Dinge passieren, es wurde ja darauf hingewiesen, ich hatte es in den Nachrichten gesehen. Aber die schlimmen Dinge fanden woanders statt.
    Als sie schließlich aufs College kam, war das Schlimme schon näher gerückt. Sie erinnert sich noch an das zermürbende Gefühl, als wartete man die ganze Zeit auf einen schweren steinernen Schritt, dann auf ein Klopfen an der Tür. Alle wussten Bescheid.

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