Das Jahr der Flut
Schlange das Symbol der Heilkunde. In anderen Religionen bezeichnet die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, den Zyklus des Lebens sowie Anbeginn und Ende der Zeit. Weil sie sich häutet, war die Schlange auch immer ein Sinnbild der Erneuerung − die Seele, die ihr altes Ich abwirft und in voller Pracht wiederaufersteht. Wahrhaftig ein vielschichtiges Symbol. Was bedeutet es also, »weise wie Schlangen« zu sein? Sollen wir uns selbst in den Schwanz beißen, sollen wir andere zu bösen Taten verleiten, oder sollen wir uns um unsere Feinde winden und sie zu Tode würgen? Gewiss nicht − heißt es doch in demselben Satz, wir sollen harmlos wie Tauben sein.
Die Weisheit der Schlange − so meine ich − ist die Weisheit des unmittelbar Gefühlten, da die Schlange die Vibrationen der Erde unter sich spürt. Die Schlange ist insofern weise, als sie im Hier und Jetzt lebt und ganz ohne die ausgeklügelten intellektuellen Gerüste auskommt, die die Menschheit unablässig für sich konstruiert. Denn was uns der Glaube, ist anderen Lebewesen ihr angeborenes Wissen. Kein Mensch vermag den Geist Gottes in seiner Ganzheit zu erfassen. Der menschliche Verstand ist eine tanzende Stecknadel auf dem Kopf eines Engels, so klein ist er, verglichen mit der göttlichen Unendlichkeit ringsum.
Wie es im Wort Gottes heißt: »Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht …« Und das ist der Punkt: das man nicht sieht. Wir können Gott nicht durch Verstand und Berechnung erkennen; tatsächlich führt ein Übermaß an Verstand und Berechnung dazu, dass wir zweifeln. Durch unsere wissenschaftlichen Berechnungen wissen wir, dass Kometen und Atomkatastrophen mögliche Zukunftsszenarien darstellen, abgesehen von der wasserlosen Flut, die, wie wir fürchten, immer näher rückt. Diese Angst verwässert unser Gottvertrauen und führt zum Verlust des Glaubens; und dann tritt die Versuchung, Böses zu tun, in unsere Seele; denn wenn der Untergang auf uns wartet, wozu dann überhaupt noch nach dem Guten streben?
Wir Menschen müssen uns anstrengen, um zu glauben, anders als andere Lebewesen. Tiere wissen, dass der Morgen anbrechen wird. Sie spüren es − am Gekräusel in der Dämmerung, an den Regungen am Horizont. Nicht nur jeder Sperling, nicht nur jeder Wakunk, auch jeder Fadenwurm, jedes Weichtier, jeder Krake und jedes Mo’Hair und jedes Löwamm − Er hält alle schützend in Seiner Hand. Anders als wir brauchen sie den Glauben nicht.
Wer könnte bei der Schlange sagen, wo der Kopf endet und der Körper beginnt? Sie erfährt Gott in jedem Teil ihrer selbst; sie spürt die Vibrationen des Göttlichen in der Erde und reagiert schneller darauf als das Denken selbst.
Dies ist unsere ersehnte Weisheit der Schlange − dieses ganzheitliche Sein. Mögen wir die wenigen Augenblicke freudig begrüßen, wenn uns durch Gottes Gnade und mithilfe unserer Einkehrtage, Vigilien und gottgesandten botanischen Mittel eine Ahnung dessen zuteil wird.
Lasst uns singen.
DEN TIEREN WEISHEIT GAB DER HERR
Den Tieren Weisheit gab der Herr,
Die kein Mensch je begreifen kann,
Was er mit Mühe lernen muss,
Beherrscht das Tier von Anfang an.
Das Tier braucht keine Fibeln, denn
Gott deckt’s mit Geist und Seele ein.
Die Sonne summt dem Bienchen zu,
Die Erde lockt das Maulwürflein.
Ein jedes labt sich an den Früchten,
Jedes sich auf Gott verlässt,
Und keins davon will Handel treiben,
Keins davon beschmutzt sein Nest.
Die Schlange ist ein heller Pfeil,
Vermag der Erde leises Beben
Unter ihrem Schuppenkleid
Am ganzen Leibe zu erleben.
Ach, wär ich weise wie die Schlange,
Wär die Ganzheit gänzlich mein,
Um nicht nur mit dem Hirn zu denken,
Sondern mit dem ganzen Sein.
Aus dem
Gesangbuch der Gottesgärtner
43.
Toby. Das Fest der Weisheit der Schlange, Jahr Fünfundzwanzig
Das Fest der Weisheit der Schlange. Vollmond. Toby notiert Feiertag und Mondphase auf ihrem rosa Notizblock mit dem zwinkernden Auge und dem Kussmund. Vollmond ist Beschneidungswoche, sagten die Gärtner. Bei Neumond pflanzen, bei Vollmond stutzen. Eine gute Zeit, um auch bei sich selbst scharfes Werkzeug anzulegen, alles Überflüssige abzutrennen. Den Kopf zum Beispiel.
»Kleiner Scherz«, sagt sie laut. Solche morbiden Gedanken sollte sie lieber vermeiden.
Heute wird sie sich die Fingernägel schneiden. Auch die Zehennägel; sie sollte sie nicht wuchern
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