Das Jahr der Kraniche - Roman
selbst erzählt, dass er ein Haushaltsbuch führte. Er hätte sicher nichts dagegen, wenn sie es sich einmal ansah. Als sie das Notizbuch öffnete und den Stempel auf der Innenseite des Einbands sah, war ihr, als würde die Welt stehen bleiben.
JULIA LANDAU , CORNELIUSSTRASSE 19, 80331 MÜNCHEN
Dieses Notizbuch gehörte Julia.
Laura sank auf einen Stuhl. Wie kam dieses Notizbuch hierher in Hannos Küchenschrank? Plötzlich wurde sie von Entsetzen geschüttelt. Sie sollte auf der Stelle weggehen, das Buch einfach liegen lassen und bloß nicht hineinschauen.
»Laura. Huhu, ich bin ’ s.« Elkes Stimme schallte durch das leere Haus. Sie war zwar nicht ausdrücklich mit Laura verabredet, aber es hatte sich so eingespielt, dass sie einmal am Tag bei ihr vorbeisah. Sie tranken Tee zusammen, aßen den Kuchen, den Elke mitbrachte. Manchmal sahen sie sich auch alte Fotos an, die Elke in Kartons mitbrachte und die meistens Jan und sie zeigten, wie sie als Kinder waren. Komisch, dass Laura sich nicht meldete. Elke wusste, dass Jan nicht zu Hause war. Sie ging eilig durch das Haus und fürchtete schon, dass sie Laura irgendwo zusammengebrochen finden würde. Doch im Wohnzimmer war sie nicht, auch nicht in ihrem kleinen Dachzimmer. Und auch das Schlafzimmer war leer. Als sie gerade wieder die Treppe hinuntergehen wollte, sah sie aus dem Augenwinkel, dass die Tür zum Eckzimmer aufstand. Laura hatte ihr schon gesagt, dass sie dieses Zimmer zum Kinderzimmer machen wollten. Sie drückte die Tür ein wenig auf, neugierig, für welche Farben sich Laura und Jan entschieden hatten. Sie verzog spöttisch das Gesicht, als sie sah, dass die Wände hellgelb gestrichen worden waren. Klar, sie hatten sich nicht entscheiden wollen, ob es ein Junge oder ein Mädchen würde. Da nahm man eben was Neutrales. Aber wieso gerade Gelb? Die Farbe des Neids und der Eifersucht. Als sie das Zimmer wieder verlassen wollte, hielt sie plötzlich inne. Der Fleck – er war noch da. Nicht mehr so rot wie damals, eher bräunlich wie getrocknetes Blut. Ihr Blick saugte sich an dem Flecken fest. Sie brachte es nicht fertig wegzusehen. Als sie entdeckte, dass jemand an dem Flecken herumgekratzt hatte, ging sie in die Knie. Der Kratzer war ganz frisch. Wer hatte das getan? Und warum? Vielleicht der Bodenleger, der den Dielenboden abziehen sollte? Sicher, das war die einleuchtendste Erklärung. Er wollte sicher wissen, wie tief der Fleck ins Holz gedrungen war, wie tief er in den Boden hineinschleifen musste. Sie verließ das Zimmer, sorgfältig darauf achtend, dass die Tür so angelehnt war wie vorher, bevor Elke sie aufgestoßen hatte.
Laura war noch immer nicht da. Vielleicht sitzt sie ja am See. Elke ging durch das Wohnzimmer auf die Terrasse. Als sie die Tür öffnete, blies ein Windstoß herein. Einige Papiere, die auf dem Couchtisch lagen, segelten zu Boden.
»Mist.«
Sie sammelte die Papiere zusammen. Eine Stromrechnung, eine Telefonrechnung, ein Brief von Lauras Mutter und ein Laborbericht. Sie stutzte. Was machte Laura mit einem Laborbericht? Noch dazu von einem aus einem Münchner Labor? Sie studierte das Papier.
Die Sonne ging glühend rot unter. Das Tal lag wie verwunschen da. Leichte rosafarbene Nebel füllten die Senken, ein paar Wölkchen, die am blaugrün schillernden Himmel standen, fingen die letzten Sonnenstrahlen auf und verwandelten sich in fast orangefarbene Wattebäusche. Am Himmel zeigten sich die Kraniche in ihren langen Flugformationen und landeten schließlich auf den Äckern.
Hanno hatte an diesem Abend kein Auge für das Malgenie der Sonne. Als er aus dem Wald gekommen war und gerade seinen Weg nach Hause antreten wollte, war der Reifen eines Holzlasters mit einem ohrenbetäubenden Knall geplatzt. Der Laster war ins Schleudern geraten, und die Baumstämme, die er geladen hatte, waren von der Ladefläche gerutscht. Der Fahrer war mit dem Schrecken davongekommen. Hanno hatte ihm geholfen, den kaputten Reifen zu wechseln, eine schweißtreibende Arbeit. Danach luden sie zusammen mit ein paar Waldarbeitern die Holzstämme wieder auf den Laster. Er fürchtete, dass sie bis tief in die Nacht damit zu tun haben würden. Er sollte Laura Bescheid geben, dass sie vielleicht den Hund abholen sollte. Aber sie ging nicht ans Telefon.
Julia Landau hatte ein Verhältnis mit Marius Berg gehabt. Sie hatten geplant, zusammen wegzugehen.
In knappen Sätzen hatte Julia in ihrem Tagebuch festgehalten, wie sie und Marius sich verliebt hatten. Wie
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