Das Jahr der Kraniche - Roman
sie versucht hatten, die Gefühle, die sie füreinander hegten, zu leugnen. Wie sie aber schließlich festgestellt hatten, dass sie ohne einander nicht leben wollten. Sie hatten geplant, zusammen nach Schweden auszuwandern. Die Tickets für die Fähre von Sassnitz nach Trelleborg hatte Marius besorgt. Am vierzehnten September hatten sie sich dort treffen wollen, um endlich für immer zusammen zu sein.
Laura starrte fassungslos auf das Tagebuch in ihren Händen. Julia hatte niemals vorgehabt, nach Costa Rica zu gehen. Laura versuchte zu verstehen, was vor zehn Jahren passiert sein mochte. Aber sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Marius war doch hier und lebte bei seiner Frau. Konnte es sein, dass Julia sich die Sache mit ihm nur eingebildet hatte? Dass sie ihn mehr geliebt hatte als er sie? Vielleicht war sie für ihn nicht mehr als ein unbedeutender Seitensprung gewesen. Aber er hatte die Tickets besorgt. Hätte er das getan, wenn er sie nicht geliebt hätte?
Sie hörte Schritte vor dem Haus. Das musste Hanno sein. Er würde ihr alles erklären. Er musste ihr alles erklären. Sie nahm das Tagebuch und ging zur Tür.
Es war nicht Hanno, der da gekommen war. Es war Elke.
»Hier bist du. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, dass dir etwas…«
Elke stockte, als sie sah, was Laura in der Hand hielt.
»Was machst du denn hier? Du hast in Hannos Sachen rumgeschnüffelt?«
Laura spürte Elkes Wut.
»Ich hab Julias Tagebuch gefunden.«
Sie wusste alles! Alles, was sie in den letzten Jahren vergessen geglaubt hatte, würde jetzt wieder ans Tageslicht kommen. Wieso hatte Hanno Julias Sachen auch nicht weggeworfen? Er hatte ihr doch versprochen, sie zu entsorgen. Alle würden es erfahren, das mit Julia und Marius. Sie würden erfahren, dass er sie betrogen hatte und verlassen wollte. Alles, was sie getan hatte, wäre umsonst gewesen.
»Du hast es gewusst, nicht wahr? Du hast gewusst, dass dein Mann mit Julia weggehen wollte. Wieso hat er es nicht getan? Sag es mir, Elke, sag mir endlich, was damals passiert ist!«
In diesem Moment spürte Laura den Schlag an ihrem Kopf. Es wurde schwarz um sie.
Sie musste sie wegbringen. Hanno konnte jeden Augenblick zurückkommen. Elkes Gehirn arbeitete wie eine Maschine. Wo sollte sie sie hinbringen? Es gab nur einen Ort, an dem sie niemand suchen würde. Sie rannte in den Schuppen. Die Schubkarre stand da, wo sie immer gestanden hatte. Sie fuhr sie vor die Hütte. Gott sei Dank hatte Laura noch nicht so viel zugenommen. Elke schaffte es mühelos, den schlaffen Körper auf die Schubkarre zu laden. Jetzt musste es schnell gehen. Sie schob die Karre zum See, wo Hanno sein Ruderboot festgemacht hatte. Sie musste sie erst einmal aus dem Weg schaffen. Dann würde sie sich überlegen, was weiter zu geschehen hatte. Laura regte sich stöhnend. Verdammt, sie kam schon wieder zu sich. Elke rannte zurück in die Hütte. Irgendwas musste sie finden, um Laura zu fesseln. Im Schuppen fand sie, was sie suchte.
»Laura. Bin wieder da. Laura?«
Jan wunderte sich, dass das Haus dunkel war. Selbst wenn Laura schon ins Bett gegangen war– sie ließ doch immer wenigstens ein Licht brennen. Aber heute war das Haus dunkel. Er lief die Treppe hinauf.
»Laura?«
Sie war nicht da, weder im Schlafzimmer noch in einem der anderen Räume. Atemlos stand er in der Küche. Sie hatte nichts gekocht, was sie immer tat, wenn sie ihn zurückerwartete. Wo war sie? Es konnte nicht sein, dass sie es auch getan hatte! Sie konnte nicht weggegangen sein. Nicht Laura. Nicht in ihrem Zustand. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass sie ihn verlassen hätte.
»Herr Plathe?« Jan glaubte, sein Herz bliebe stehen, als er den Polizisten in seiner Haustür stehen sah. Es war ihr etwas passiert. Sie hatte einen Unfall gehabt. Wieso sonst würde spät am Abend ein Polizist vor seiner Tür stehen? Er erkannte ihn: Es war der Polizist, dem sie angezeigt hatten, dass ihnen Shadow zugelaufen war, Polizeiobermeister Kuhn.
»Was ist passiert? Hatte sie einen Unfall? Wo ist sie? Ist sie im Krankenhaus?«
Die Sätze brachen aus ihm heraus. Er musste zu ihr. Sicher war sie verletzt. Ob mit dem Kind alles in Ordnung war? Mein Gott, bitte lass sie am Leben sein. Alle beide.
»Entschuldigen Sie, dass ich so spät noch vorbeischaue. Aber ich war gerade in der Nähe. In einer Datsche am See wurde eingebrochen, und da dachte ich, ich gehe einfach bei Ihnen vorbei. Es geht um Ihren Hund.«
Jan war schwindlig vor
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