Das Jahr der Kraniche - Roman
bitten.
Inzwischen musste sie sich ablenken. Sie musste raus aus diesem Haus, in die Sonne, die für September noch so ungewöhnlich warm schien. Sie rief Shadow. Doch in dem Moment, als sie seinen Namen aussprach, fiel ihr ein, dass der Hund ja mit Hanno unterwegs war. Vielleicht sollte sie einen Spaziergang zu Hannos Haus machen und dort Shadow abholen. Sie schlüpfte in die weite Strickjacke, die sie bequem über ihrem Bauch zuknöpfen konnte, wickelte sich ihren hellblauen Lieblingsschal um den Hals und ging los.
Die Sonne stand schon tief. Ihr Licht lag weich über dem See, von dem jetzt morgens schon die Nebelschwaden aufstiegen. Bald würden sich die Kraniche, die den Sommer auf der Insel verbracht hatten, mit denen aus Skandinavien auf den abgeernteten Feldern versammeln, um spätestens Ende September ihren Flug in den Süden anzutreten. In den Nächten hörte man am Himmel schon hin und wieder den schrillen Schrei der Züge, die schon unterwegs waren.
Und wenn sie im Frühjahr wiederkommen, wirst du schon auf der Welt sein, mein Zwerglein.
Falls sie dann überhaupt noch da sein würde. Falls sie dann noch Jans Frau sein würde. Das war doch alles vollkommen absurd. Wieso ließ sie solche Gedanken zu? Wieso vertraute sie nicht einfach ihrem Mann? Wieso freute sie sich nicht auf ihr Baby?
Als sie zu Hannos Haus kam, stellte sie schnell fest, dass er von seinem täglichen Gang durch den Wald und über die Felder noch nicht zurück war. Sie beschloss, sich auf die Bank vor dem Haus zu setzen und auf ihn und Shadow zu warten. Die Sonne fiel über den See, auf den sie eine glitzernde Bahn malte, bis zu Hannos Haus. Die Bank und die Wand, an die sich Laura lehnte, waren warm. Sie setzte sich und hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in den Himmel. Bald würde der Herbst Einzug halten, danach der Winter. Sie erinnerte sich, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, mit Jan am Kamin zu sitzen, Wein zu trinken, zu lesen oder zu plaudern.
Als sie zu frösteln begann, trat sie in die Hütte, die Hanno nie abschloss. Sie wollte sich eine Decke holen, in die sie sich wickeln konnte. Wie so oft staunte sie darüber, wie aufgeräumt und sauber es bei dem alten Mann war. Sie hatte Elke einmal gefragt, ob sie bei ihrem Vater putzen würde. Aber Elke hatte nur gelacht. Da sei ihr Vater sehr eigen. Er würde niemanden an seine Sachen lassen. Sogar damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und er sie allein aufgezogen hatte, hatte er nie eine Putzfrau in sein kleines Reich gelassen. Selbst das Bügeln hatte er sich beigebracht und es so gut gemacht, dass Elke sich daneben immer wie eine Anfängerin in Sachen Haushalt vorkam.
Umso merkwürdiger war es heute, dass auf dem Tisch noch seine Kaffeetasse vom Frühstück stand und dazu ein Brettchen, auf dem ein benutztes Messer und eine geringelte Apfelschale lagen. Irgendwas musste ihm seine Pläne durcheinandergebracht haben. Dabei hatte er doch, als er vor ein paar Stunden im Jägerhaus aufgetaucht war, um Shadow abzuholen, gelassen wie immer gewirkt. Ohne nachzudenken räumte Laura den Tisch ab, spülte Tasse, Brettchen und Messer und verstaute sie nach dem Abtrocknen in den Geschirrschrank.
Die Besteckschublade klemmte ein wenig. Sie ließ sich nicht ganz zuschieben. Laura ruckelte sie ein wenig hin und her. Vielleicht hatte sie sich nur verzogen. Als sich die Schublade immer noch nicht ganz in den Schrank schieben ließ, zog sie sie einfach ganz heraus. Irgendwas musste hinter sie gerutscht sein. Sie griff in den Hohlraum und zog ein Heft heraus. Sie lächelte vor sich hin. Vermutlich ein Haushaltsheft, in das der penible Hanno seine Einnahmen und Ausgaben schrieb. Sie kannte das von ihrer verstorbenen Großmutter. Die hatte jeden Abend ihre Ausgaben in ein kariertes Schulheft eingetragen, sorgfältig nach Lebensmitteln und Haushaltsdingen und, wie sich Laura erinnerte, Luxusgütern aufgeteilt. Wobei zu den Luxusgütern solche Dinge wie Nagellack gehörten. Oder Parfum oder Wimperntusche für ihre Enkelin. Was wohl Hanno in sein Heft notierte? Als sie es in den Händen hielt, stutzte sie. Es war kein gewöhnliches Schulheft, sondern ein kleines schickes, in hellgrünes Wildleder gebundenes Notizheft, das von einem Gummiband verschlossen wurde. Dass Hanno so ein edles Heft benutzte? Vielleicht hatte er es ja von Elke irgendwann einmal geschenkt bekommen. Laura zögerte ein wenig. Durfte sie das? War das nicht ein Vertrauensbruch? Aber Hanno hatte ihr doch
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