Das Jahr der Kraniche - Roman
gleichen Duft zu schenken, den seine Mutter eine Zeit lang getragen hatte, als er noch ein sehr kleiner Junge gewesen war. Aber er hatte sich nichts dabei gedacht, als er das Parfum in der Drogerie stehen sah. Er hatte sich nur daran erinnert, wie gut ihm dieser Duft gefallen hatte, als er ein kleiner Junge war.
Er muss es doch riechen. Ich versteh nicht, wieso er das leugnet.
» Sag nicht, dass du dich nicht erinnerst, dass ich mal dieses Parfum getragen habe, bevor du mir das andere mitgebracht hast.«
»Doch, natürlich erinnere ich mich. Aber ich rieche hier nichts, tut mir leid.«
Die Erinnerungen schlugen über ihm zusammen. Julias Lachen, Julias Freude, Julias Fremdheit, als sie sich immer öfter hierher zurückgezogen hatte, um allein zu sein.
»Egal, was du hier riechst– es wird verschwunden sein, wenn wir das Zimmer neu gestrichen haben.«
»Wieso sollten wir es streichen? Ich finde das Grün wunderschön. Es ist so frisch. Die weißen Möbel, die ich ausgesucht habe, werden wunderbar dazupassen.«
»Natürlich werden wir es neu streichen. Alles wird neu und frisch sein, wenn das Baby hier einzieht.«
Und alle Gerüche und Gedanken und Erinnerungen werden verschwunden sein.
Lauras Herz schlug beschwingt, als sie sich vorstellte, wie sie hier zwischen den Fenstern sitzen und ihr Baby stillen würde. Das Kratzen von Shadows Pfoten auf dem Holz riss sie aus ihren Gedanken.
»Was machst du da, Shadow? Hör damit auf.«
Der Hund ließ sich nicht beirren. Die Nase am Boden scharrte er mit den Vorderpfoten, als wollte er sich in das Holz eingraben. Sie nahm ihn am Halsband und wollte ihn aus dem Zimmer ziehen. Und da sah sie den dunklen Flecken, an dem Shadow herumgescharrt hatte.
»Was ist das denn?«
Jan sah zu ihr hin. Er kam näher und sah den Flecken. Er hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich ein Wasserfleck. Ich hab dir doch erzählt, dass das Dach über dem Zimmer beschädigt war. Vermutlich hat es hereingeregnet.«
Sie würden den Boden sowieso abziehen lassen, und dann würde von dem Flecken nichts mehr zu sehen sein. Laura ging in die Knie.
»Das ist kein Wasserfleck. Dafür ist er viel zu dunkel. Das hier sieht aus… wie ein Blutfleck.«
»Was für ein Blödsinn. Wie sollte ein Blutfleck in Julias Zimmer kommen?«
Es war also doch Julias Zimmer gewesen. Und er hatte es ihr nicht gesagt. Er hatte die ganze Zeit nicht gewollt, dass sie es betrat, obwohl hier nichts mehr an Julias Existenz erinnerte. Bis auf den Blutfleck.– Bis auf den Blutfleck?
Sie versuchte, Jans Gesichtsausdruck zu erkennen. Doch er war jetzt an der Tür.
»Das wird alles nicht mehr zu sehen sein, wenn die Handwerker hier drin waren. Und jetzt komm. Im Moment ist es hier wirklich zu ungemütlich.«
Sie zögerte. Noch einmal warf sie einen Blick auf den Flecken. Ein Wasserfleck war das auf jeden Fall nicht, egal, was Jan ihr weiszumachen versuchte.
Hanno hatte das Essen bei Elke genossen. Sie war wirklich eine hervorragende Köchin. Ihr Lammbraten hätte mit dem jedes Spitzenkochs mithalten können. Es war anfangs ein sehr entspannter Abend gewesen. Sie hatten über das Wetter geredet, das dieses Jahr einfach herrlich war, über das Pferd, das sich Elke im Herbst kaufen wollte, über Elkes Garten und über die Kraniche, die in diesem Jahr wieder auf der Insel nisteten. Doch dann war die Rede darauf gekommen, wann Elke und Marius denn in Urlaub fahren würden. Und die Stimmung war schlagartig dahin. Marius hatte vorgeschlagen, dass sie ihre Reise im nächsten Frühjahr machen würden. Das hatte Elke abgelehnt. Dann würde doch gerade Lauras Baby da sein.
»Wir können sie doch dann nicht allein lassen. Sie hat doch keine Ahnung, was sie mit einem Kind anfangen soll.«
Hanno und Marius hatten ihr heftig widersprochen. Sie beide waren davon überzeugt, dass Laura eine sehr gute Mutter sein würde.
»Das denkt ihr nur, weil ihr in sie verliebt seid. Aber meiner Meinung nach hat sie überhaupt kein Muttergen in sich. Wenn wir nicht aufpassen, wird sie es versauen.«
Elke war aufgesprungen und in die Küche gelaufen. Marius und Hanno hatten einander ratlos angesehen.
»Ich weiß nicht, wieso sie so sicher ist, dass Laura es nicht packen wird.«
Marius ’ Stimme hatte besorgt geklungen.
»Ich denke, es gefällt ihr einfach, gebraucht zu werden.«
Hanno hatte die Sorge, die er in sich aufsteigen fühlte, wegdrängen wollen. War es nicht normal, dass sich jede Frau für die bessere
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