Das Jahr der Kraniche - Roman
oder?«
»Du weißt, was ich meine.«
Marius nahm das Glas und setzte sich in den bunt gemusterten Sessel vor dem offenen Kamin, in dem Elke schon vor einer Stunde ein Feuer angezündet hatte.
»Jedenfalls bin ich froh, dass er das Haus nicht verkauft. Stell dir vor, Papa hätte ausziehen müssen. Das hätte ihm das Herz gebrochen.«
»Oder dir?«
Oder mir? Wieso sagt er das? Während sie mit dem Holzlöffel die Suppe umrührte, betrachtete sie Marius ’ blonden Hinterkopf. Seine Haare waren genauso weizenhell wie die ihren. Man hätte sie für Geschwister halten können, wenn man sie so sah. Die gleiche schlanke Statur, wobei Marius eher drahtig war und sie einfach nur knochig. Dieselben wasserfarbenen Augen, die gleiche helle, sonnenempfindliche Haut.
»Wenn wir Kinder gehabt hätten, wären wir so eine Bilderbuchfamilie geworden, wie aus der Margarinewerbung. Eine wirklich hübsche Familie.«
Aber sie waren allein geblieben. Nach vier Fehlgeburten, die Elke nicht nur viel Kraft gekostet, sondern ihr auch regelmäßige Albträume beschert hatten, in denen sie mit blutüberströmten Beinen im See stand und sich mit einer Wurzelbürste die Haut wund rieb, hatten sie und Marius beschlossen, nicht mehr darauf zu hoffen, ein Kind zu bekommen. Sie hatten begriffen, dass es die Familie, die sie sich gewünscht hatten, nicht geben würde. Ihre Enttäuschung hatten sie mit Arbeit zugedeckt, Marius in der Praxis, Elke in der Schule. Weihnachten waren sie viele Jahre lang in den Süden geflohen. In Strandhotels an türkisblauem Meer, weit weg jedenfalls von deutschen Traditionen mit Tannenbaum und Geschenken, zu denen ihrer Meinung nach bei ihnen ein wichtiges Ingredienz fehlte: ein Kind, das mit leuchtenden Augen den geschmückten Baum ansah und mit heißen Händen das Papier von den Geschenken riss. Erst in den letzten Jahren hatte Elke sich gefragt, wie es wohl Hanno in diesen Weihnachtstagen ohne Familie ergehen mochte. Er hatte nie geklagt, hatte nie gesagt, dass er gerade in diesen Tagen einsam sei. Und als sie ihm mitgeteilt hatten, dass sie in Zukunft Weihnachten hier zu Hause feiern wollten, zusammen mit ihm, hatte er seine Rührung unter heftigem Gepolter verborgen. Unter Beschwörungen, sich doch nicht den Karibikurlaub durch ihn verderben zu lassen. Aber dann fand er sich dankbar und froh in ihrem Haus zum Weihnachtsessen ein, zu dem er traditionell den Nachtisch mitbrachte.
Natürlich hätte es ihr das Herz gebrochen, wenn Hanno hätte wegziehen müssen. Sie war es gewohnt, ihn in der Nähe zu wissen, sich auf ihn verlassen zu können. Und darauf hätte sie nur ungern verzichtet.
Ihre Finger fuhren durch Marius ’ Haare.
»Findest du es so schlimm, dass ich an meinem Vater hänge? Ich will nicht, dass er aus meinem Leben verschwindet. Du weißt doch, wie nahe wir uns sind. Ich brauche ihn einfach.«
Marius hatte längst aufgehört, sich über die enge Bindung zwischen Elke und Hanno zu wundern. Am Anfang, als er die Praxis in Templin übernommen hatte und er und Elke dahin zurückgezogen waren, wo sie herstammte, hatte es ihn manchmal gestört, dass Hanno fast jeden Abend zum Essen bei ihnen gewesen war. Marius war müde aus der Praxis heimgekehrt und hatte keinen anderen Wunsch gehabt, als mit seiner Frau auf der Terrasse zu sitzen und bei einem Glas Wein in den Sonnenuntergang zu starren. Oder in das Kaminfeuer an den kühleren Tagen. Aber eigentlich waren sie immer zu dritt gewesen. Nicht, dass er Hanno nicht mochte. Der Mann mit dem markanten, von Lebenslinien durchzogenen Gesicht war ihm sympathisch. Er bewunderte auch Hannos Leistung, Elke nach dem Tod der Mutter allein großgezogen zu haben. Aber das hieß nicht, dass er jeden freien Abend, den er hatte, mit ihm verbringen wollte. Es hatte ein wenig gedauert, bis er den Mut aufgebracht hatte, Hanno zu sagen, dass er sich mehr Zeit allein mit seiner Frau wünschte. Was natürlich nicht bedeuten würde, dass er etwas dagegen habe, dass Hanno und Elke sich so oft sahen, wie sie es wollten. Nur die Abende, die würde er gern für sich und Elke haben. Hanno solle das bitte nicht falsch verstehen. Und Hanno hatte es nicht falsch verstanden. Im Gegenteil.
»Wenn ich mir vorstelle, mein Schwiegervater hätte jeden Abend an meinem Tisch gesessen… O Gott. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut, dass ich so unsensibel war.«
Sie hatten sich gegenseitig beieinander entschuldigt, in der Dorfkneipe ein paar Biere zusammen getrunken, und
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