Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
Finger in den Mund. Das warme Blut hatte einen leicht bitteren Geschmack. Mit der rechten Hand zog sie die Küchenschublade auf, in der die Pflaster lagen. Sie öffnete die Schachtel, zog einen Pflasterstrip heraus, fummelte mühsam die Schutzhülle weg und legte das Pflaster auf die kleine Wunde. Einen Augenblick lang hielt sie inne. Dann nahm sie das Pflaster wieder weg. Die Wunde blutete schon nicht mehr. Nichts war passiert. Nichts? Sie drückte auf das Fleisch neben der Wunde. Presste fest. Bis ein neuer Blutstropfen austrat. Eine dunkelrote Perle. Tränen traten ihr in die Augen, liefen über ihre Wangen. War denn der Schmerz, den sie sich eben unabsichtlich zugefügt hatte, so groß, dass sie weinen musste?
    Sie sank in sich zusammen, rutschte an der Wand auf den Boden hinunter. Achtete sorgsam darauf, die Perle auf ihrem Finger nicht zu zerstören. Dieses Rot war unbeschreiblich schön. Ein blutroter Tropfen im Schnee. Wie sehr hatte diese Vorstellung sie fasziniert, als ihr Vater ihr damals das Märchen von Schneewittchen vorgelesen hatte. Rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz, weiß wie Schnee, so schön war die Prinzessin, der die Stiefmutter nach dem Leben trachtete. Tagelang hatte sie damals Bilder gemalt. Schwarze Balken auf blütenweißem Papier. Und das Rot der Blutstropfen hatte sie nicht aus ihrem Malkasten genommen. Sie hatte sich mit einer Nadel in die Fingerkuppe gestochen, so tief und fest, bis das Blut floss und zwischen die schwarzen Balken auf das Weiß des Papiers tropfte.
    »Wie schön du malen kannst«, hatte Hanno gesagt. Das ganze Märchen in drei Farben. Schwarz, weiß, rot. Blutrot. Vielleicht sollte ich wieder anfangen zu malen, dachte sie.
    »Was machst du da auf dem Boden, Schatz?«
    Sie hatte Marius nicht kommen gehört.
    »Nichts. Mir ist ein Stück Karotte vom Tisch gerollt. Aber ich kann es nicht finden.«
    Er reichte ihr die Hand und zog sie auf die Beine.
    »Du bist blass. Ist alles in Ordnung?«
    Ja, es war alles in Ordnung, es war alles gut. Als er sie an sich zog und ihr einen Begrüßungskuss auf die Lippen drückte, verschmierte sie den Blutstropfen an seinem weißen Hemd.
    »Oh, entschuldige, ich hatte mich geschnitten. Komm, zieh das Hemd schnell aus, ich weiche es gleich ein.«
    Sie konnte den Blick nicht von dem roten Fleck abwenden, als sie sich daranmachte, sein Hemd aufzuknöpfen. Wie schön das war. Das Rot auf dem Weiß. Ein kleines Kunstwerk. Fast zu schade, um es mit Wasser zu zerstören.
    Marius hielt ihre Hände fest.
    »Das bisschen Blut macht doch nichts. Es wird bei der nächsten Wäsche rausgehen. Kein Problem.«
    Ja, natürlich, kein Problem. Es gab keine Probleme in ihrem Leben. Alles war gut.
    »Wenn du einen Augenblick Geduld hast, gibt es Karottensuppe mit Ingwer. Oder willst du lieber den Braten von gestern? Ich könnte ihn schnell aufwärmen und…«
    »Karottensuppe klingt gut. Wenn du mir ein Glas Wein einschenkst, schneide ich sie schnell zu Ende. Den Rest überlasse ich dann gern dir.«
    Bevor er zum Messer griff, nahm er ein Pflaster aus der Schachtel und klebte es ohne Umstände über die kleine Wunde.
    »Der Arzt im Haus…«
    »…erspart den Zimmermann, ich weiß.«
    Sie lächelten einander an. Alles ist gut, dachte sie, als sie den Rotwein in das bauchige Glas rinnen ließ. Nero d’Avola aus Sizilien, den sie vor Jahren in einer kleinen Trattoria am Fuß des Ätna zum ersten Mal probiert hatten und sich seitdem immer von einem Weinhändler in Berlin schicken ließen.
    »Jan ist zurück.«
    Ihre Stimme klang unaufgeregt, als sie das Glas auf den Tisch stellte. »Er hat vor ein paar Tagen geheiratet und will nun mit seiner Frau hier leben.«
    Marius legte das Messer zur Seite. Er nahm einen Schluck Wein.
    »Das ist gut.« Mehr sagte er nicht, sondern wandte sich wieder den Karotten zu.
    Sie warf die geschnittenen Scheiben in einen Topf, in dem sie schon Zwiebeln glasig geschmort hatte. Die Stille zwischen ihnen wurde durch das Zischen aufgebrochen, das zu hören war, als die Karotten auf das heiße Fett trafen.
    »Sie scheint nett zu sein. Laura heißt sie. Sie ist jung, viel jünger als er.«
    »Es freut mich, dass er es noch einmal wagt.«
    Marius schob die letzten Karottenscheiben vom Holzbrett in den Topf. Elke rührte die Scheiben unter, gab ein Stück Ingwer dazu und schnitt einen kleinen Apfel ungeschält in die inzwischen brodelnde Masse.
    »Was heißt hier ›wagen‹? Er hat sich verliebt. Ganz normal, dass man da heiratet,

Weitere Kostenlose Bücher