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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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fortan war Hanno höchstens noch zweimal in der Woche bei ihnen zum Essen. Wobei es Marius durchaus klar war, dass sich Vater und Tochter wie bisher jeden Tag wenigstens auf einen Kaffee trafen. Er hatte längst aufgehört, sich darüber zu wundern, dass Elke keine anderen Freunde hatte. Nur ihren Vater. Mit ihm sprach sie über Gartenbau oder Bienenzucht, ihn buchte sie für Waldexkursionen ihrer Schulklassen. Und auch als Vorkoster bei ihren Kochversuchen setzte sie ihn ein. Ein paar Mal hatte Marius seine Frau gefragt, ob sie sich keine Freundin suchen wolle, mit der sie vielleicht noch ein paar andere Dinge machen konnte als mit ihrem Vater. Doch Elke hatte ihn jedes Mal so verblüfft angesehen. Hatte überhaupt nicht verstanden, wieso er sich Gedanken darüber machte, dass sie keine Freundinnen hatte. Da hatte er es aufgegeben. Wer weiß, vielleicht war er ja ganz einfach nur neidisch auf die enge Bindung, die zwischen Vater und Tochter bestand. Vor allem, weil er zu seinem eigenen Vater zeit seines Lebens ein eher distanziertes Verhältnis gehabt hatte. Der leise Seufzer, der ihm entfuhr, als er ein neues Holzscheit in das Kaminfeuer legte, galt weniger der Tatsache, dass es zwischen ihm und seinem Vater nie richtig gestimmt hatte. Vielmehr war er der Ausdruck einer tief sitzenden Unruhe, die Marius schon seit Jahren umtrieb. Und die er, je länger er dieses Leben eines Landarztes führte, immer weniger einordnen konnte. Das laute Knacken eines berstenden Astes riss ihn aus seinen Gedanken. Er war froh darüber. Denn wenn er es zulassen würde, den Gedanken nachzuforschen, wenn er versuchen würde, sich über den Grund seiner Unruhe klar zu werden, würde er alles, was sein Leben ausmachte, in Frage stellen müssen. Und das wollte er nie mehr tun.
    »Wenn sie so nett ist, wie du sagst… Wer weiß, vielleicht könnt ihr euch ja anfreunden.«
    Er erwartete, dass Elke ihm einmal mehr versicherte, dass sie sich wohl fühlte, so wie sie lebte, dass sie sich in ihrer Situation keineswegs einsam fühlte und niemanden brauchte.
    »Daran habe ich auch schon gedacht.«
    Verblüfft sah er sie an.
    »Ich werde ihr helfen, sich hier einzuleben. Und wenn wir uns besser kennen, werden wir bestimmt auch mal was zusammen machen.«
    Er kam nicht dazu, seiner Verwunderung und seiner Freude über ihre Offenheit dieser Laura gegenüber Ausdruck zu geben. Der Lärm, den der Stabmixer machte, mit dem Elke jetzt die Karottensuppe pürierte, beendete das Gespräch. Marius begann den Tisch zu decken. Er sah nicht, dass das Pflaster auf Elkes Finger sich rot zu färben begann. Die Wunde hatte wieder angefangen zu bluten.
    Erschrocken drehte Laura sich um. Was war das? Sie hatte beim Zähneputzen plötzlich das Gefühl gehabt, dass jemand hinter ihr stand. Dass sie nicht allein war in dem großen Badezimmer, dessen Jahrhundertwendeausstattung mit dem originalen Porzellanwaschbecken sie entzückte.
    Ihr Atem ging stoßweise. Der Duschvorhang. Bewegte er sich nicht? Sie versuchte, ruhiger zu atmen. Zwecklos. Mit einer entschlossenen Geste riss sie den Vorhang zur Seite. Nichts. Da war niemand. Die Wanne, die auf gusseisernen Löwenfüßen stand, war leer. Natürlich war sie leer, genauso wie der Rest des Badezimmers. Wer hätte sich da auch verstecken sollen? Jan? Sie hörte, wie er im gegenüberliegenden Schlafzimmer hin und her ging. Sie strich sich über die Arme, auf denen sich die dunklen Härchen aufgerichtet hatten.
    Hör auf zu spinnen. Da ist niemand.
    Sie starrte in den Spiegel. Entspannt war sie nicht, die Frau, die ihr da entgegensah. Sie wusch sich das Gesicht mit viel kaltem Wasser und zuckte heftig zusammen, als sie das Klopfen an der Tür vernahm.
    »Alles in Ordnung, Laura?«
    »Natürlich. Alles okay. Ich bin gleich fertig.«
    Sie putzte die Zähne zu Ende, cremte sich das Gesicht ein und stellte dann die Gesichtscreme auf die schmale, gläserne Ablage über dem Waschbecken, neben das Glas, in dem ihre Zahnbürste neben der von Jan stand. Zweifelnd sah sie auf die Ablage. Ob sie alle ihre Kosmetikutensilien hier unterbringen konnte? Selbst das kleine dunkle Holzschränkchen, das in einer Ecke stand, würde wahrscheinlich nicht ausreichen für ihre Cremes und Lotionen, die Lippenstifte und die Puderdosen. Sie öffnete das Schränkchen, dessen Innenraum durch zwei Holzplatten geteilt wurde. Auch hier war nicht viel Platz. Ob Jan wohl etwas dagegen haben würde, das Schränkchen aus dem Bad zu entfernen und durch einen

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