Das Jahr der Kraniche - Roman
konnte nur die fremde Umgebung sein, die sie irritiert hatte.
»Vielleicht gibt es hier ja Gespenster. Oder einen unglücklichen Geist, der jede Nacht durch das Haus streift und darauf hofft, dass ich ihn endlich erlöse.«
Sie versuchte ein Grinsen, aber sie wusste, dass ihr der Schrecken immer noch anzusehen war.
»Ich hätte dich da oben nicht allein lassen dürfen. Nicht in der ersten Nacht. Es tut mir leid, Liebes.«
»Wo bist du denn gewesen?«
»Im Musikzimmer. Ich konnte nicht schlafen und habe noch einen Drink genommen.«
»Und du hast nichts gehört?« Sie kannte die Antwort, bevor sie die Frage ausgesprochen hatte. »Tut mir leid, dass ich so bescheuert bin. Ich bin sonst nicht so ängstlich. Ich hab keine Ahnung, was mit mir los ist.«
Ihr Herz schlug wieder in der normalen Geschwindigkeit, die Panik war verschwunden. Vielleicht hatte sie einfach zu viele Horrorfilme gesehen. Es war alles in Ordnung. Sie hatte sich nur wie ein Kind vor den Geräuschen der Nacht gegruselt. Etwas anderes war es nicht.
Aber das Licht. Es ist nicht angegangen, als ich oben an der Treppe auf den Schalter gedrückt habe. Ach, hör auf mit dem Quatsch. Der Lichtschalter wird einfach kaputt sein. Sie kuschelte sich in die weichen Kissen des alten Sofas. Es ist alles so wunderbar hier. Dieser Raum mit seinen schönen alten Möbeln ist der Inbegriff der Gemütlichkeit. Jan wird den Kamin anzünden, wir werden hier sitzen und lesen. Oder reden, Wein trinken, Freunde bewirten. Plötzlich war ihr leicht ums Herz. Sie würde vielleicht ein paar Tage brauchen, um sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Aber es gab hier sicher nichts, vor dem sie sich fürchten musste.
Das Boot glitt leise auf den See hinaus. Elke war eine geübte Ruderin. Die Ruderblätter tauchten lautlos in das schwarze Wasser, bis sie in der Mitte des Sees angekommen war. Zwischen den Buchen, deren glatte Stämme im Mondlicht glänzten, schimmerte ein Licht. Im Jägerhaus waren sie also noch wach. Sie lächelte. Natürlich waren sie noch wach. Sicher hatten sie sich geliebt. Und dann angefangen zu reden. Jan würde Laura erzählen, wie schön seine Kindheit in dem Haus gewesen war. Er würde ihr die Kerben im Rahmen seiner Kinderzimmertür zeigen, mit denen seine Eltern jedes Jahr am vierzehnten August, seinem Geburtstag, markiert hatten, wie viel er schon wieder gewachsen war. Ob er ihr auch die losen Bretter im Boden zeigen würde, unter denen er als Fünfzehnjähriger die Zigaretten versteckt hatte, die er heimlich im Wald rauchte? Elke war die Einzige gewesen, der er von diesem Versteck erzählt hatte. Sie war so stolz gewesen, dass er sie ins Vertrauen gezogen hatte. Nur sie. Seine allerbeste Freundin.
»Komm ins Wasser, Elke. Sei kein Frosch.« Jan hatte bis zum Bauchnabel im Wasser gestanden und mit den Händen auf die Wasseroberfläche geklatscht, dass es nur so spritzte. »Ich hab gesagt, dass du diesen Sommer schwimmen lernen wirst. Und ich sag dir, das wirst du.«
Elke hatte am Ufer der kleinen Bucht gestanden und gebibbert. Der August war kühl gewesen, viel kühler als sonst. Das Wasser des Sees hatte sich nicht so aufgewärmt wie in anderen Sommern. Sie fror und wollte nach Hause.
»Ich muss noch Hausaufgaben machen.«
Sie hatte sich umgedreht, ihren kleinen Rucksack mit den Badesachen gepackt und war davongerannt. Sie wollte überhaupt nicht schwimmen lernen. Sie wollte nicht in dieses dunkle Wasser. Ihr gruselte vor dem, was dort möglicherweise verborgen lag. Wassernixen vielleicht, die mit Menschenkindern so lange spielten, bis sie ertranken. Oder gefährliche Schlangen, die ihren glatten Leib um die Beine eines Schwimmers wanden, um ihn in unergründliche Tiefen zu ziehen. Elke ekelte sich vor den glitschigen Fischen, die an ihren Armen und Beinen entlangschwimmen würden. Und sie fürchtete sich vor den Wasserpflanzen, deren lange Zweige dicht unter der Wasseroberfläche nur darauf warteten, dass ein Schwimmer sich in ihnen verfing.
»Hier geblieben, du Angsthase.«
Jan hatte sie von hinten gepackt und über seine nasse kühle Schulter geworfen. Alles Kreischen, alles Strampeln hatte nichts genützt. Er war mit ihr ins Wasser gestapft. Sie hatte gewusst, dass es kein Entkommen geben würde. Schlotternd vor Angst hatte sie über seiner Schulter gelegen. Würde er sie jetzt einfach ins Wasser werfen? Sie würde untergehen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
»Nicht. Bitte nicht. Ich will nicht ertrinken.«
Jan hatte aufgehört zu
Weitere Kostenlose Bücher