Das Jahr der Kraniche - Roman
lachen. Er hatte sie behutsam von seiner Schulter gehoben und auf den Arm genommen.
»Ganz ruhig, Frosch. Hier ertrinkt niemand. Wenigstens nicht, solange ich dabei bin.«
Seine Stimme war ernst und ruhig geworden, sie hatte sich an seinen Hals geklammert. Und die Wärme seiner Haut gespürt.
»Würdest du eigentlich gern fliegen können?«, hatte er plötzlich gefragt. Natürlich. Fliegen, das wäre das Tollste. Wie ein Vogel hoch über der Erde. Im blauen Himmel, zwischen weißen Wattewolken. Ja, fliegen würde sie gern lernen.
Er hatte sie abgelenkt von ihrer Furcht. Hatte ihr erzählt, dass sich Tauchen genau wie Fliegen anfühle. Und Schwimmen ganz ähnlich. Man fühle sich so leicht wie ein Vogel, wenn man vom Wasser getragen werde.– Und die Fische und die Nixen und die Wasserschlangen?
»Hast du jemals gehört, dass Fische zusammenstoßen? Na, siehst du, sie sind es gewohnt, einander auszuweichen. Und sie werden auch diesem neuen Fisch, der Elke heißt, so elegant und gewandt wie immer ausweichen.«
Und was die Nixen und das andere Furcht erregende Getier angehe, da kenne er wahrlich Menschen, die noch viel furchterregender seien. Und überhaupt, wenn sie ihre Angst nicht zeigen würde, würden die sie auch nicht beachten. Er hatte geredet, ernst und lustig, er hatte sie währenddessen wie unabsichtlich mit Wasser bespritzt, und ohne dass sie es merkte, hatte er sie langsam auf seinem Arm immer tiefer rutschen lassen, bis ihre Füße ins Wasser hingen. Am Ende jenes Sommers war Elke mit Jan um die Wette zu der kleinen Insel geschwommen, die wie ein grüner Tupfen mitten im See lag. Sie war als Erste auf der Insel angekommen. Auch wenn sie sich immer fragte, ob er sie nicht einfach hatte gewinnen lassen. Seit jenem Sommer war Elke auf und im Wasser zu Hause gewesen. Es gab kein Element, in dem sie sich wohler fühlte. Wann immer sie sich entspannen oder körperlich austoben wollte, hatte sie sich einen See gesucht oder das Meer.
»Ganz ruhig, Frosch. Hier ertrinkt keiner.«
Jans warme Stimme klang heute noch in ihr nach. Er hatte ihr die Angst vor dem Wasser genommen. Und weder er noch sie hatten damals geahnt, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie niemals schwimmen gelernt hätte. Wenn das Wasser auf ewig das feindliche Unbekannte geblieben wäre, in das sie sich nicht hineintraute.
Elke legte an dem windschiefen Holzsteg an, den Hanno damals gebaut hatte, weil die Kinder ihn darum anbettelten, ihnen eine Möglichkeit zu verschaffen, die Insel zu ihrem Reich zu machen. Sie hatten Schiffbrüchige gespielt. Robinson und Freitag. Hatten sich hier aus der Welt in fremde Galaxien geträumt. Eigentlich nur einen Sommer lang, einen wundervollen unvergesslichen Sommer. Sie betrat die Insel, die im Mondlicht wie ein winziges Stück undurchdringlicher Dschungel wirkte. Seit zehn Jahren war sie nicht mehr hier gewesen. Sie und wohl auch kein anderer. Nur die Kraniche hatten sich die Insel zu ihrem Schlafplatz erkoren, wenn sie im Frühjahr und im Herbst hier Rast auf ihrer langen Reise machten. Wieso war sie jetzt hierher gekommen? Hatte die Vergangenheit durch Jans Hochzeit allen Schrecken verloren? Überstrahlte sein neues Glück alles, was gewesen war? Wenn Jan mit diesem düsteren Kapitel seines Lebens endlich abgeschlossen hatte, konnte sie es nun auch?
Als der Morgen über dem Jägerhaus graute und das erste fahle Licht ins Schlafzimmer fiel, lag Jan immer noch wach. Er lag auf der Seite und betrachtete die Frau, die ruhig neben ihm schlief. Wie ein Kind hatte sie die Beine angewinkelt, ihre Hände mit dem knallroten Nagellack hatte sie zu Fäusten geballt, die dichten Wimpern lagen auf schlafrosigen Wangen. Wenn er einen Augenblick seines Lebens festhalten wollte, dann war es wohl dieser. Das, was er niemals erwartet hatte, war geschehen. Sein Herz, das zehn Jahre lang zu Stein erstarrt gewesen war, hatte wieder angefangen zu schlagen. Gefühle, denen er sich nie mehr hatte ausliefern wollen, hatten ihn überrumpelt. Sein Körper, der jedes Schaudern, jedes Zittern, jedes Verlangen vergessen hatte, war wieder aufgewacht. Die Frau, die so arglos neben ihm lag, hatte keine Ahnung davon, was sie für ein Wunder bewirkt hatte. Und sie würde es auch nie erfahren. Aller Schmerz, alle Qual, dieses mühsame Schleppen von einem Tag in den anderen– all dies war in dem Moment vergessen gewesen, als er Laura das erste Mal berührt hatte. Im Kino nannten sie das »Magic Moment«. Ein Mann traf eine Frau
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