Das Jahr der Kraniche - Roman
Dass sie Kopfschmerzen gehabt habe oder nicht habe schlafen können, dass sie an der frischen Luft gewesen war. Ganz einfach. Ganz harmlos. Ganz normal. Früher, als er sich noch Sorgen um Elke gemacht hatte, war er ihr in diesen Nächten gefolgt, hatte vom Ufer aus beobachtet, wie sie auf den See hinausruderte. Wie sie in der Mitte des Sees die Ruder einholte und dann stundenlang ganz ruhig in dem Boot saß. Die Einsamkeit, die sie ausstrahlte, hatte ihn berührt. Am Anfang hatte er vermutet, dass sie schlafwandelte, wie sie da barfuß, in ihrem weißen Mädchennachthemd, zielsicher durch den Wald auf das Ufer zugegangen war. Wie sie ins Boot stieg und kraftvoll die Ruderblätter ins Wasser stieß. Er hatte Angst gehabt, dass etwas passieren würde. Was, wenn sie die Ruder verlor? Oder das Boot aus irgendeinem Grund kenterte? Natürlich wusste er, dass sie schwamm wie ein Fischotter. Aber er wusste nicht, ob ihr Körper sich an diese Fähigkeit erinnern konnte, wenn er plötzlich aus der schlafwandlerischen Trance gerissen wurde. Er hatte im Internet recherchiert, versucht, sich in Büchern und bei Kollegen schlauzumachen. Doch zu einem befriedigenden Ergebnis war er nicht gekommen. Einigkeit bestand zwischen den Experten allerdings darin, dass es beim plötzlichen Wecken eines Somnambulen häufig dazu kam, dass er die Orientierung verlor und panisch reagierte. Oder dass er Fähigkeiten, über die er normalerweise verfügte, für kurze Zeit verlor. Es wäre also durchaus möglich, dass Elke, wenn sie durch einen Sturz ins Wasser geweckt wurde, nicht schwimmen konnte und in so einer Situation einfach ertrank. Aus diesem Grund war er ihr einige Nächte an den See gefolgt, einfach um da zu sein, falls wirklich etwas passierte. Bis sich Elke eines Nachts, als sie gerade wieder in das Boot steigen wollte, unvermittelt umdrehte und in die Dunkelheit sagte: »Geh nach Hause, Marius. Du brauchst deinen Schlaf.«
Noch heute erinnerte er sich an das Gefühl der Erleichterung, das er bei ihrem Satz empfand. Wenigstens war sie bei Sinnen, wenn sie ihre nächtlichen Ausflüge unternahm. Das war immerhin etwas.
»Vielleicht solltest du dir etwas Wärmeres anziehen. Die Nächte sind ziemlich kühl.«
Sie war ganz nah an ihn herangekommen. Er hatte die Umrisse ihres mädchenhaften Körpers deutlich unter dem Nachthemd sehen können.
»Es ist schön, dass du dir Sorgen machst«, hatte sie leise gesagt. »Aber völlig unnötig.«
»Sag mir, was du hier draußen tust, mitten in der Nacht.«
Ein kleines Lachen schwebte in die Dunkelheit davon.
»Das weißt du doch. Ich fahre ein wenig Boot, betrachte die Sterne und lausche der Stille. Mehr nicht.«
»Und warum tust du das?«
Die Frage stand zwischen ihnen, ohne dass er sie aussprechen musste.
»Du glaubst, normale Menschen liegen zu dieser Uhrzeit im Bett, ja? Das tust du doch. Und du fragst dich, wieso ich nicht normal bin.«
»Nein, das frage ich mich nicht. Du bist genauso normal wie ich und wie Hanno und wie… ach, keine Ahnung… wie alle anderen Leute auch.«
»Na dann«, hatte sie gelacht, »ist ja alles in Ordnung.«
Und sie hatte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben, war in das Boot gestiegen und auf den schwarzen See hinausgerudert. Marius hatte sich in jener Nacht nicht dazu durchringen können, nach Hause zu gehen. Er hatte sie aus dem Schutz der Dunkelheit heraus beobachtet, bis im Osten das erste Morgenlicht einen rötlichen Streifen auf den Horizont legte. Und er war ihr gefolgt, als sie durch die taufeuchten Wiesen zurückging zu ihrem Haus. Er hatte sich neben sie ins Bett gelegt und sie bereitwillig in seine Arme genommen, als sie sich wie im Traum an ihn drängte. Ihre weiche Kinderhaut, die noch ganz durchdrungen war von der nächtlichen Kühle, hatte ihn nicht erregt, sondern den Beschützerinstinkt in ihm nur noch verstärkt. Er hätte ihr so gern geholfen. Doch dazu hätte er erst einmal wissen müssen, was ihr Problem war.
Mit den Jahren waren die nächtlichen Ausflüge seiner Frau weniger geworden, bis sie sie schließlich ganz einstellte. Umso nachdenklicher war er an diesem Morgen. Was war passiert, dass es Elke in der Nacht wieder auf den See zog?
Elke spürte, dass Marius sie beobachtete. Sie sah ihn an. Ihr Blick war weich. Ein Lächeln lag darin. Sie griff nach seinem Jackett, zog ihn ohne Umstände zu sich heran und küsste ihn auf den Mund.
»Manchmal kann ich gar nicht fassen, dass ich so einen wunderbaren Mann abgekriegt
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