Das Jahr der Kraniche - Roman
aus allen Knopflöchern zu platzen. Ein leichter Hauch eines Parfums umschwebte sie, der Marius unvermittelt auf den Magen schlug. Shalimar. Merkwürdig, dass sie mitten im Sommer so ein schweres Parfum trug. Und dann auch noch dieses! Er erinnerte sich, wie dieser Duft das Jägerhaus erfüllt hatte. Und ein Schauder fuhr ihm über den Rücken. Es kostete ihn einige Mühe, der Erinnerung, die plötzlich in ihm hochstieg, keinen Raum zu geben.
»Ist dir nicht gut?«
Lauras Blick war besorgt.
»Doch. Alles super.«
Er bemühte sich, gegen das Gefühl der Übelkeit anzuatmen.
»Soll ich dich ein Stück mitnehmen? Ich fahre direkt am Jägerhaus vorbei. Bin auf dem Weg zu einem Patienten.«
Als sie kopfschüttelnd dankte, war er erleichtert.
»Shadow und ich machen morgens immer eine große Runde. Er braucht das. Sonst ist er den ganzen Tag nicht ausgelastet und will dauernd bespielt werden.«
Der Hund brachte hechelnd den Ast wieder, den er mit sich schleppte. Laura zog ihn ihm lachend aus der Schnauze, was er als Aufforderung zu einem kleinen Zerrspiel verstand.
»Wir sind uns immer noch nicht einig, wer in unserer Beziehung der Boss ist.«
Sie rang ihm den Ast ab und schleuderte ihn ein paar Meter weit in die Wiese.
»Jan meint, ich bin zu nachgiebig mit ihm. Ich hab mir vorgenommen, das in den paar Tagen, die er weg ist, endgültig zu klären. Wobei ich allerdings nicht beschwören kann, dass am Ende tatsächlich ich der Rudelführer sein werde.«
Marius wünschte sich, Elke hätte ein wenig von Lauras Selbstsicherheit und dem unbekümmerten Elan gehabt, mit dem sie offensichtlich dem Leben gegenübertrat.
»Du wirst das schon hinkriegen. Wann kommt Jan denn wieder?«
»Mittwoch oder Donnerstag, er konnte es noch nicht genau sagen. Kommt drauf an, wie die Gespräche in Köln laufen.« Ihre Augen funkelten wie dunkle Diamanten, als sie ihren Blick über die Landschaft streifen ließ. »Von mir aus kann er ruhig bis zum Wochenende wegbleiben. Dann sind die Chancen, dass ich Shadow seinen Platz in der Familie klarmachen kann, größer. Und außerdem hab ich dann mehr Zeit zum Streichen.«
Marius hatte durch Elke von Lauras Verschönerungsplänen gehört.
»Lichtblau«, hatte sie gesagt, und in ihrer Stimme hatte eine Spur von Verachtung gelegen. »Sie will ihr Zimmer lichtblau streichen. Und die Küche meergrün.«
Elke hatte Laura versprochen, ihr beim Streichen zu helfen, obwohl sie eigentlich fand, dass Laura mit diesen Farben den Charakter des Jägerhauses verändern würde.
»Vermutlich ist das ja genau das, was Laura beabsichtigt«, hatte er eingeworfen. »Sie will wohl eigene Akzente setzen. Kann man doch verstehen, oder?«
Elke hatte ihn verständnislos angesehen. In ihren Augen war das Jägerhaus perfekt so, wie es war. Sie hatte es schon als kleines Mädchen geliebt. Die immer ein wenig düsteren Zimmer mit ihren dunklen Wänden waren ihr geheimnisvoll erschienen. Als wären die aufregenden Geschichten, die ihr Jan leise erzählt hatte, als sie unter dem Flügel im Musikzimmer gelegen hatten, wahr gewesen.
»Das Haus hat eine eigene Persönlichkeit. Ich verstehe nicht, wieso sie sich nicht einfach daran anpasst.«
Wieso nicht? Weil Laura im Hier und Jetzt lebt. Weil sie lebendig und jung ist. Weil sie ihre eigenen Geschichten in dem Haus erleben will.
Marius war gespannt auf die Veränderungen, die Laura im Jägerhaus einführen würde. Er hoffte für sie, dass sie sich das Haus untertan machen und die Spinnweben der Vergangenheit ein für allemal entfernen würde. Sie hatte Power, das war ihm schon bei ihrer ersten Begegnung klar geworden. Und sie sah ihrer Zukunft mit Jan zuversichtlich und optimistisch entgegen. Wenn sie wüsste, wie sehr er ihr wünschte, dass sie ihre Pläne und Ideen würde durchsetzen können. Und vielleicht, wenn alles gut ging, würde sich ja auch Elke von Lauras Tatkraft und ihrem fröhlichen Naturell ein wenig anstecken lassen. Vielleicht war Laura das Beste, was ihnen allen hier passieren konnte.
Als er ihr nachblickte, wie sie mit kräftigem Schritt hinter Shadow her davonging, fühlte er sich plötzlich leicht. Die Vergangenheit endlich einmal vergangen sein zu lassen, das schien ihm in diesem Augenblick möglich. Obwohl er sich wunderte, dass er es gerade dieser Frau, die so jung und mädchenhaft war, zutraute, die Schatten, die auf ihnen lagen, einfach wegzuwischen. Nur durch die Tatsache, dass es sie gab und dass sie sich ohne Angst und Vorbehalte auf ein
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