Das Jahr der Kraniche - Roman
schauerliche Geschichten über Waldgeister und böse Nixen, die im See lebten, erzählt hatte.
Trotzdem, er würde zusehen, seinen Aufenthalt in Köln auf höchstens zwei Tage zu begrenzen. Länger wollte er Laura nicht allein lassen. Er sehnte sich ja schon nach ihr, wenn er sie nur zwei Stunden lang nicht sah. Doch er wusste, dass das eine Ausrede war. Er war nämlich schon einmal von einer Reise zurückgekehrt, beflügelt von der Aussicht auf einen neuen Auftrag, geradezu euphorisch, weil er den Wettbewerb für eine neue Kunsthalle in Rostock gewonnen hatte. Und dann hatte er das Haus leer vorgefunden. Von einem Augenblick zum anderen war sein Leben in sich zusammengesackt. Dieses Gefühl, das ihn sofort überfallen hatte, als er das Haus betrat, wollte er nicht noch einmal erleben. Nur ein Zettel war ihm geblieben mit den dürren Worten: »Es tut mir leid.«
Marius fuhr über die holprige Pflasterstraße zum kleinen Biohof der Emmerlichs. Maike hatte ihn angerufen und gefragt, ob er nicht vor Arbeitsbeginn in der Praxis bei ihnen vorbeisehen könne.
»Tina und Uwe haben Durchfall, und sie übergeben sich dauernd.«
Sie wollte die beiden kranken Kinder nicht ins Auto packen und in Marius ’ Sprechstunde fahren. Ein Kalb sollte heute geboren werden, das erste der neuen Kuh, die sie im letzten Herbst gekauft hatten. Sie wusste zwar, dass Kühe normalerweise keine Geburtshilfe brauchten, trotzdem hätte sie ein schlechtes Gefühl gehabt, wenn sie für ein paar Stunden weggefahren wäre. Natürlich hatte Marius sofort gesagt, dass er bei ihr vorbeikommen würde. Er kannte die Emmerlichs gut, Elke und er kauften gern Gemüse und Obst von den beiden jungen Bauern, die so schwer schufteten, um von dem Ertrag des kleinen Hofs, den Maikes Mann Helmut vor ein paar Jahren von seinem Vater übernommen hatte, leben zu können. Außerdem liebte er die morgendlichen Fahrten durch die Uckermark. Am Steuer seines Autos konnte er seinen Gedanken nachhängen, er hörte seine Lieblingsmusik, und wenn es ihm ganz gut ging, sang er laut die Arien der italienischen Opern mit, die Elke so ganz und gar nicht leiden konnte. Was für ein herrlicher Morgen. Der blaue Himmel lag weit und durchsichtig über der sanften Hügellandschaft. Der würzig herbe Duft der blühenden Holunderbüsche, die die Straße säumten, wehte durchs offene Fenster herein. Hellbraune Kühe standen auf den blühenden Wiesen. Hin und wieder sah er einen Storch, der mit abgehackten Bewegungen nach Futter stöberte. Die meisten Kraniche hatten ihren Flug nach Norden längst fortgesetzt. Erst im Herbst würden sie die abgeernteten Felder wieder bevölkern, um sich für den langen Flug nach Süden zu stärken. Nur wenige Paare blieben seit einiger Zeit hier in der Gegend, bevor sie sich im Herbst den großen Zügen der skandinavischen Vögel anschlossen, um in den Süden zu gelangen.
Zuerst sah er den Hund, der in langen Sätzen über eine butterblumengelbe Wiese rannte. Bis zum Bauch schien er in dem Blütenmeer zu versinken. Aufgeregte Haken schlagend, rannte er im Zickzack hin und her. Als kurz danach Laura aus dem Wald trat und der Hund auf sie zurannte und sie mit seiner Begeisterung umtanzte, hielt Marius unwillkürlich den Atem an. Es war ein schönes Bild, die junge dunkelhaarige Frau und der große ungestüme Hund. Laura lachte vergnügt auf, als der Hund losstürmte und sofort wieder zu ihr zurückkehrte, einen dicken Ast mit sich schleppend, den er vor sie hinlegte. Er sah sie an und bellte auffordernd. Laura hob den Ast auf. Nicht gerade das ideale Wurfgeschoss für sie. Aber das schien sie nicht weiter zu stören. Sie holte weit aus und warf den Ast davon. Er flog nur ein paar Meter weit, der Hund stürzte mit einem entzückten Aufbellen hinterher, um das Spiel auf der Stelle zu wiederholen.
Sie hat sich wirklich gut eingelebt in den paar Wochen, die sie hier ist.
Die Selbstverständlichkeit, mit der sie mit weit ausholenden Schritten hinter dem Hund durch die Wiese ging, die Lässigkeit, mit der sie ohne zu zögern über einen Graben sprang und gleich darauf über einen Zaun stieg, gefielen ihm. Genauso wie das Aufleuchten ihrer Augen, als sie ihn in seinem Auto erkannte.
»Marius, hallo. Ist das nicht ein wundervoller Morgen?«
Ein paar Schweißperlen glänzten auf ihrer Nase. Sie zog die Strickjacke aus und wischte sich über das Gesicht.
»Es wird heiß heute. Das ist gut für die Himbeeren.«
Sie sah so zufrieden aus. Das Glück schien ihr
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