Das Jahr der Kraniche - Roman
versuchte, sich zu erinnern, ob er sie vielleicht in eine der Schubladen des Containers gesteckt hatte– es gelang ihm einfach nicht. Was, wenn er sie einfach in seine Jackentasche getan hatte? Was, wenn Laura die Jacke aufhängen oder zur Reinigung bringen wollte und die Postkarte fand? Was würde er sagen, wenn sie ihn fragen würde, von wem die Karte sei? Wer denn diese Julia sei, die ihm eine derart merkwürdige Botschaft geschickt hatte?
Am liebsten wäre er auf der Stelle wieder ausgestiegen und nach Hause gefahren. Doch das war unmöglich. Die Maschine startete in diesem Moment und ließ kurz darauf den Flughafen Tegel unter sich. Jan versuchte ruhig zu atmen. Die ältere Frau, die neben ihm saß, legte ihre Hand auf die seine.
»Sie müssen keine Angst haben. Fliegen ist viel ungefährlicher als Autofahren.«
Sie glaubte, dass er Flugangst habe. Jan zwang sich zu einem Lächeln und bedankte sich bei der Frau für ihre Aufmerksamkeit.
»Es geht mir gut«, sagte er, aber an ihrem skeptischen Blick sah er, dass sie ihm nicht glaubte. Und sie hatte ja recht: Es ging ihm in diesem Augenblick überhaupt nicht gut. Er hatte Angst. Aber nicht davor, wie sie dachte, dass er mit dem Flugzeug abstürzen konnte. Er hatte Angst, dass eine kleine Unachtsamkeit das Leben, das er sich gerade geschaffen hatte, zum Einsturz bringen würde.
III. – Juni
1
»Julia.« Die schmächtige kleine Frau kam auf sie zugelaufen, ja, sie rannte sogar fast und stand dann atemlos vor ihr. Ihre hellblauen Augen leuchteten. Ihre Brust hob und senkte sich von der Anstrengung des Laufens.
»Julia, da bist du ja.« Sie brachte die Worte kaum heraus, so schwer ging ihr Atem. Doch sie wiederholte sie ein ums andere Mal. Sie nahm Lauras Hand in die ihre. »Ich hab solche Angst um dich gehabt. Aber es ist dir nichts passiert? Wie gut du aussiehst. Geht es dir gut?«
»Ja«, sagt Laura verwundert. »Es geht mir gut. Aber ich glaube, Sie verwechseln mich. Ich heiße nicht Julia.«
»Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Wo warst du denn die ganze Zeit?«
»Hören Sie, mein Name ist Laura. Laura Plathe. Ich wohne erst seit ein paar Wochen…«
»…im Jägerhaus. Das weiß ich doch. Aber wieso sagst du, dass du Laura heißt? Ich kenne dich doch.« Sie hob die Hand und berührte Lauras Wange. Tränen standen in ihren Augen. »Ich hab mir solche Vorwürfe gemacht. Weil ich dir nicht geholfen habe. Du warst so blass, Kindchen. Und so still warst du auch.«
Laura sah sich unbehaglich um. Vielleicht kannte ja jemand die alte Frau, die sie anscheinend mit einer anderen verwechselte.
Doch der Platz um das Rathaus war leer. Nur in dem kleinen Café, in dem sie schon ein paar Mal gesessen hatte, waren ein paar Leute. Doch die interessierten sich nicht für die Szene, die sich da gerade vor ihnen abspielte. Laura zog ihre Hand aus der der alten Frau.
»Ich muss leider weiter. Auf Wiedersehen.«
»Natürlich. Das verstehe ich. Bestimmt hast du noch nicht fürs Abendessen eingekauft. Was gibt es denn? Kochst du Jan sein Lieblingsessen? Huhn auf Schmorgurken?«
Laura starrte die alte Frau ungläubig an. Huhn auf Schmorgurken war tatsächlich Jans Lieblingsessen.
»Mann, Jette, ich hab dir doch gesagt, dass du auf der Bank auf mich warten sollst!«
Mike kam über den Platz gelaufen. Er war nur kurz in der Apotheke gewesen. Jette sollte wie immer auf einer Bank vor dem Rathaus auf ihn warten. Sie liebte es, auf dem Platz zu sitzen, sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen und den Leuten nachzusehen, die ihren Geschäften nachgingen. Noch nie war sie einfach abgehauen. Doch sie war ja Gott sei Dank nicht allzu weit gekommen.
»Was machst du denn, Jette? Du hast mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt.«
Mike legte den Arm um Jettes magere Schultern und sah Laura entschuldigend an.
»Ich hoffe, Jette hat Sie nicht aufgehalten.«
»Nein, gar nicht. Aber sie hat mich anscheinend mit jemandem verwechselt. Sie nannte mich ›Julia‹.«
»Das tut mir leid. Und jetzt komm, Jette, wir müssen nach Hause, es gibt gleich Mittagessen.«
»Kann Julia nicht mitkommen? Wir haben uns so lange nicht gesehen. Sie hat mir bestimmt viel zu erzählen.«
»Es tut mir leid, aber ich habe wirklich keine Zeit.«
Laura wollte die alte Frau nicht enttäuschen. Ihre Freude, diese Julia wiedergetroffen zu haben, war so groß und innig, und tatsächlich verdüsterte sich das Gesicht der alten Frau sofort. Es schien, als würden ihr Tränen in die Augen
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