Das Jahr der Kraniche - Roman
versteckt haben, den sie ihr für gewöhnlich mitbrachte.
Laura hielt der Stute den kleinen Apfel hin, den sie in der Hosentasche gehabt hatte. Sie liebte das Gefühl der weichen Pferdelippen aufihrer Hand, wenn sich Flora vorsichtig den Leckerbissen nahm. Hermes’ Atem wärmte kitzelnd ihren Nacken. Jan meinte, der große Hengst hätte sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Shadow drängte sich, wie immer, wenn sie mit den Pferden schmuste, eifersüchtig an ihre Beine. Eigentlich war er der Meinung, dass Laura nur ihm gehörte. Dass er ihre Aufmerksamkeit mit den beiden Pferden teilen musste, wollte er nicht begreifen.
Lieber Gott, danke. Ich hab keine Ahnung, womit ich es mir verdient habe, dermaßen glücklich zu sein.
Sie wusste nicht, wie oft sie dieses kleine Dankgebet schon in Richtung Himmel geschickt hatte. Sie wusste ja nicht einmal, ob sie wirklich an diesen Gott da oben glaubte, dem sie so innig dankte. Aber es musste einfach raus. Sie musste es jemandem sagen, wie unglaublich dankbar sie war, dass das Schicksal sie hierhergebracht und dass sie nicht nur Jan gefunden hatte, sondern auch alles, was das Leben so schön machte, wie sie es sich nie erträumt hatte. Niemals.
Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken noch einmal zu Marius wanderten. Vielleicht war er ja ein bisschen neidisch? Aber worauf denn? Er hatte einen guten Beruf, eine liebende Ehefrau, ein hübsches Haus. Trotzdem bekam Laura den Gedanken nicht aus dem Kopf. Irgendwas war mit diesem Mann. Irgendwas plagte ihn.
Klar, Elke mochte ein wenig verrückt sein. Sicher nicht im psychiatrischen Sinne, ganz bestimmt nicht. Aber eine kleine Macke hatte sie schon. Andererseits musste sich Laura eingestehen, dass so eine merkwürdige Reaktion wie an jenem Tag, als Elke das Glas heruntergeworfen hatte, nicht mehr vorgekommen war. Im Gegenteil, sie hatte sich als aufmerksame und hilfsbereite Nachbarin erwiesen, die Laura in die Eigenheiten der Landbevölkerung hier eingewiesen hatte und die ihr gern all die kleinen Geschichten erzählte, die zum Leben in der Gegend hier gehörten. Also, was war es dann?
Laura schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust mehr, weiter über Marius nachzudenken. Er war, wie er war, und sie musste sich ganz einfach damit abfinden. Allerdings, ob sie ihn als Arzt haben wollte, wenn es einmal nötig wäre? Sie war sich da nicht so sicher. Sie würde sich mal umhören, ob es noch andere Ärzte in der Gegend gab. Wie sie aber Jan oder gar Elke erklären sollte, dass sie nicht zu Marius gehen wollte, das wusste sie nicht.
Die Postkarte, schoss es Jan durch den Kopf. Wo hatte er die Postkarte hingetan? Vor zwei Tagen war sie ihm in die Hand gefallen, als er zusammen mit Hanno seinen Schreibtisch in sein neues Arbeitszimmer geschleppt hatte. Er hatte ihn sich per Internet bestellt. Ein einfaches Stück aus dunkler Eiche mit Edelstahlbeinen, zwei Meter auf einen Meter groß und schwer wie ein Stein. Er war von einem Kurierdienst geliefert und einfach vor der Tür abgestellt worden. Hanno und er hatten ganz schön was zu schleppen gehabt, und als sie den Tisch endlich im Musikzimmer stehen hatten, waren sie ziemlich außer Atem gewesen. Aber er machte sich gut zwischen den beiden bodentiefen Fenstern, die auf die Terrasse hinausführten. Er würde sehr gut daran arbeiten können, da war Jan sich sicher. Während Hanno in der Küche etwas zu trinken geholt hatte, hatte er es nicht abwarten können, seine Sachen auf den Tisch und in den dazu gehörigen Container zu räumen. Dabei war ihm die Postkarte in die Hände gefallen. Sekundenlang hatte er sie angestarrt. Er war überzeugt gewesen, dass er sie damals weggeworfen hatte. Die Abbildung eines einsamen Strandes an der Küste von Costa Rica hatte in den zehn Jahren einen Grünstich bekommen: Meer, Himmel, Dschungel– alles hatte eine einheitliche Farbe. Er kannte die Worte, die auf der Rückseite standen, auswendig.
»Es geht mir gut. Such mich nicht.«
Als Hanno mit den beiden Bierflaschen ins Musikzimmer zurückgekommen war und wissen wollte, wo denn jetzt der Flügel hin sollte, hatte er die Karte schnell weggelegt. Aber wohin?
Es war ihm plötzlich kalt in dem überhitzten Flugzeug, das eine halbe Stunde in der prallen Sonne gestanden hatte, bis es endlich die Startfreigabe bekommen hatte. Er fühlte den Schweiß auf seinem Rücken. Wo hatte er die Postkarte hingetan? Es konnte doch nicht sein, dass sie noch auf dem Schreibtisch lag. Aber so sehr er
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