Das Jahr der Kraniche - Roman
treten.
»Vielleicht treffen wir uns ja bald mal wieder.«
Mike lächelte sie an.
»Das würde Jette sicher gefallen. Ihre einzigen Verwandten leben in Süddeutschland, und die können sie nicht so oft besuchen, wissen Sie. Und sie freut sich immer, wenn sie mit jemandem über früher reden kann.«
»Ich besuche sie gern, aber ich kenne sie nicht.«
Die Enttäuschung in Mikes Blick war fast so groß wie Jettes.
»Schade. Sie ist schon ziemlich einsam. Aber wenn Sie sie nicht kennen…«
»Ich weiß nicht, wer diese Julia ist, mit der sie mich verwechselt. Haben Sie eine Ahnung?«
Er schüttelte den Kopf und nahm dann Jettes Hand.
»Ich bin erst seit einem halben Jahr in dem Heim. Über Jettes Vergangenheit weiß ich so gut wie nichts. Wär ’ halt schön gewesen, wenn Sie sie gekannt hätten.«
Er lächelte Laura bedauernd an.
»Du kommst doch, ja? Du kommst mich bald besuchen?« Jette drehte sich noch einmal zu Laura um. Sie lächelte sie an. »Ich bin so froh, dass es dir wieder gut geht. Du warst so schrecklich blass.«
Jetzt nahm Mike sie endgültig an der Hand und führte sie weg zu seinem Auto, das am Rand des Platzes geparkt stand.
»Warten Sie. Wo kann ich sie denn finden, wenn ich sie besuchen will?«
Laura konnte diese Begegnung einfach nicht so traurig enden lassen. Mike sah sie überrascht an.
»Jette wohnt im Altenstift St. Joseph. Es liegt direkt neben dem Krankenhaus. Fragen Sie einfach nach Jette Politschek.«
Er half Jette behutsam ins Auto, stieg dann selbst ein und fuhr davon. Jette ließ Laura nicht aus den Augen, solange es ging.
Laura wartete vor dem Gymnasium, in dem Elke unterrichtete. Sie wollten nach der Schule zusammen etwas essen und dann in den großen Supermarkt fahren, der vor Kurzem am Rande des Ortes aufgemacht hatte. Die Schulglocke läutete, Kinder strömten heraus, manche lachend, andere mit grimmigem Gesichtsausdruck. Wahrscheinlich hatten sie gerade eine schlechte Note herausbekommen oder erfahren, dass ihre Versetzung gefährdet war, vermutete Laura. Elke trat mit zwei jungen Kolleginnen aus dem Gebäude, blinzelte in die Sonne, kramte nach ihrer Sonnenbrille und setzte sie auf. Laura winkte ihr. Sie freute sich auf das Mittagessen mit Elke. Die Spaghetti in dem kleinen italienischen Restaurant, das am Ufer des Sees lag und von dessen Terrasse man einen herrlichen Blick auf die Natur hatte, schmeckten sehr italienisch. Und in das Tiramisù, das sie sich zum Nachtisch immer teilten, hätte man sich reinlegen mögen.
»Ich dachte, wir sind bei Mario verabredet.«
Elke hakte sich bei Laura unter.
»Ich war früher mit der Bank fertig, als ich dachte. Schlimm, dass ich dich abhole?«
»Im Gegenteil. So hab ich mehr Zeit, um dich mit den Geschichten aus einem Lehrerleben zu langweilen.«
Laura lachte. Sie war froh, dass Elke und sie sich inzwischen so gut verstanden. Eigentlich waren sie schon richtige Freundinnen geworden. Wenn man das in so kurzer Zeit überhaupt werden konnte.
»Bevor du mit deinen Horrorgeschichten anfängst, muss ich dich erst was fragen. Kennst du eine Jette Politschek?«
Elke blieb stehen und sah Laura verblüfft an.
»Woher kennst du denn die alte Jette?«
»Sie hat mich auf dem Marktplatz angesprochen. Sie dachte, ich sei jemand anders. Eine Julia. Weißt du, wen sie meinen könnte?«
Es war also geschehen. Natürlich hatte es mal kommen müssen, dass irgendjemand Laura von Julia erzählte. Doch Elke sah keinen Anlass, dass ausgerechnet sie es sein sollte, die Julias Geschichte wieder ans Licht holte.
»Keine Ahnung, wen sie meinen könnte.«
»Bist du sicher? Sie muss mir irgendwie ähnlich sehen. Hast du eine Ahnung, ob diese Jette schon immer hier gewohnt hat?«
»Hat sie. Aber wieso ist das wichtig?«
Laura musste darauf achten, dass sie auf dem krummen Kopfsteinpflaster der Altstadt mit ihren hohen Sandalen nicht umknickte.
»Keine Ahnung. Es war bloß so… irgendwie war die alte Frau so sicher. Und sie hat sich so gefreut.«
»Jette hat früher in einer Gärtnerei in der Nähe gearbeitet. Papa hat da immer die Pflanzen für den Garten geholt. Und manchmal hat Jette die größeren Pflanzen auch gebracht. Sie war nett. Immer lustig, immer freundlich. Aber dann hatte sie einen Schlaganfall, und seitdem ist sie… ein wenig wunderlich.«
Also das ist es.
Vermutlich hatte der Schlaganfall bei Jette Politschek Schäden im Gehirn nach sich gezogen, sodass sie jetzt ein wenig verwirrt war und die Dinge, die sie einmal
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