Das Jahr der Kraniche - Roman
erlebt hatte, nicht mehr richtig zuordnen konnte.
»Hat sie Jan gut gekannt?«
»Sicher hat sie ihn ein paar Mal gesehen, als sie Pflanzen geliefert hat. Wieso willst du das wissen?«
»Weil sie mich gefragt hat, ob ich Jan heute sein Lieblingsessen kochen würde.«
Laura spürte die Gänsehaut, die sich auf ihren Armen bildete: Jette hatte nicht sie gefragt, sondern Julia. So, als würde diese Julia Jan kennen. Und nicht nur das. Die alte Frau hatte angenommen, Julia würde für ihn kochen.
»Gab es im Jägerhaus denn mal eine Köchin, die Julia hieß?«
Elke schüttelte nur schweigend den Kopf. Sie war sich nun sicher, dass Laura nicht lockerlassen würde, nicht aufhören würde nachzufragen, bis sie die Wahrheit herausgefunden hatte. Und dann? Was wirst du tun, Laura, wenn du begreifst, dass Jan dir den wichtigsten Teil seines Lebens verschwiegen hat?
Sie waren auf der Terrasse des italienischen Restaurants angekommen. Elke deutete auf einen Tisch am Wasser.
»Wollen wir den nehmen?« Sie ging Laura voraus zu dem Tisch und bestellte im Vorübergehen bei Franco, dem Kellner mit den schönen Augen, zwei Gläser Prosecco. Als sie sich setzten, meinte sie: »Jetzt haben wir aber genug über alte, verwirrte Frauen geredet. Endlich bin ich auch mal dran. Du kannst dir nicht vorstellen, was Stefan heute von mir verlangt hat.«
Sie verstrickte sich in eine absurde Geschichte über den Wahnsinn ihres Direktors, von dessen Unfähigkeit Laura schon einige Male gehört hatte, und hoffte, Laura zumindest so lange von Jette Politschek und Julia ablenken zu können, bis sie sich nach dem Einkauf im Supermarkt trennen würden.
Der Hund stand am Ufer des Sees und winselte. Vor zehn Jahren hatte hier ein anderer schwarzer Hund gestanden. Vier Tage lang hatte man ihn nicht dazu bewegen können, seinen Platz in der kleinen Bucht zu verlassen. Sein Heulen hatte Tag und Nacht die Stille durchschnitten. Jan, der mit seinem eigenen Kummer beschäftigt gewesen war, hatte sich stundenlang zu dem Hund gesetzt und versucht, ihn zu beruhigen. Es war ein herzzerreißendes Bild gewesen, wie sie da saßen: der über Nacht ganz graugesichtig gewordene Mann und der bis in die tiefste Seele traurige Hund, wie sie da saßen. Und es hatte nichts gegeben, was sie trösten konnte. Dann war der Hund einfach verschwunden. Sie hatten tagelang in den Wäldern nach ihm gesucht, doch Pogo war nicht mehr aufgetaucht. Genauso wenig wie Julia.
Die Erinnerung an diese Tage ließ Hanno schaudern. Wie oft hatte er sich gefragt, ob er irgendetwas hätte tun können, um das Unglück zu vermeiden, das so plötzlich über sie alle hereingebrochen war.
Jan hatte mit den Leuten geredet, die Julia kannten. Er hatte die Polizei eingeschaltet, hatte nach Zeichen gesucht, nach Erklärungen. Allen, die ihn bei seiner verzweifelten Suche beobachteten, hatte das Herz wehgetan. Der Schmerz hatte ihn in eine graue Wolke gehüllt. Er hatte nicht mehr geschlafen, kaum mehr etwas gegessen. Hanno hatte sich Sorgen gemacht, dass Jan an seiner Verzweiflung zerbrechen würde. Wie gern hätte er ihn getröstet. Aber alle Worte klangen dürr, alle Gesten wirkten hilflos. Er hatte es nicht gekonnt. Er hatte es nicht über sich gebracht, diesen Mann, den er liebte, seit er ein kleiner Junge war, aus seiner Qual zu erretten. Die sich noch steigerte, als ein Angler in einem kleinen Tümpel, der an der Straße nach Templin lag, Julias Koffer fand. Plötzlich entwickelte sich das Unglück zu einer richtigen Katastrophe, die Jans Leben endgültig zu zerstören schien…
Der Hund hörte plötzlich auf zu winseln und rannte davon.
»Shadow, bleib. Shadow…«
Doch der Hund hörte nicht, er rannte davon, sein aufgeregtes Bellen verlor sich im Wald, der den See dicht umsäumte. Jetzt hörte Hanno Lauras Lachen.
»Da bist du ja, mein Kleiner. Hast du mich vermisst?«
Das Bellen des Hundes schlug in begeistertes Fiepen um. Genauso hatte Pogo damals immer geklungen, wenn er Julia begrüßt hatte.
Ich muss endlich aufhören, daran zu denken. Es ist vorbei.
» Hallo, Hanno. Da bin ich wieder. Danke, dass du auf Shadow aufgepasst hast.«
Laura warf dem Hund ein Stöckchen zu, als sie auf ihn zukam.
»Gut, dass ich dich sehe. Ich muss dich was fragen.«
Hanno war sofort beunruhigt. Wie immer, wenn er mit Laura zusammen war, fürchtete er die Fragen, die sie ihm stellen würde. Zwar hatte sie ihn bislang hauptsächlich nach Jans Familie ausgefragt, nach seinem Leben als kleiner Junge,
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