Das Jahr der Kraniche - Roman
nach der Geschichte des Jägerhauses, und er hatte ihr viele bunte Geschichten erzählt aus der Zeit, als Jan hier seine Kindheit verbracht hatte. Doch immer hatte er Angst davor, dass sie einmal fragen würde, ob es vor ihr nicht andere Frauen in Jans Leben gegeben hatte. Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, die er geliebt hatte. Hanno hatte erkannt, dass Jan Laura nichts von Julia erzählt hatte. Er fragte sich zwar, wieso er diese Episode seines Lebens ausgespart hatte, aber es stand ihm nicht zu, darüber zu urteilen, was Jan Laura erzählte und was nicht. Vielleicht wartete er auf eine günstige Gelegenheit. Vielleicht wollte er Laura nicht mit der traurigen Geschichte belasten, die sich hier abgespielt hatte. In jedem Fall würde er Jan nicht vorgreifen. Wenn der beschlossen hatte, Laura nichts von Julia zu erzählen, dann hatte er, Hanno, das zu akzeptieren.
»Kennst du eine Julia?«
Hannos Herz schien einen Moment stillzustehen. Jetzt war es also so weit: Sie hatte von Julia gehört. Als Laura ihm von der Begegnung mit Jette erzählte, war er einen Moment lang erleichtert. Solange es nur Jette war, die über Julia redete, konnte er noch ausweichen. Jette war bekanntermaßen nicht mehr ganz bei Sinnen. Nichts, was sie erzählte, musste man ernst nehmen.
»Jette hat für viele Leute gearbeitet, damals, als sie noch Gärtnerin war. Kann sein, dass da auch eine Julia dabei war.«
Er spürte, dass seine Antwort Laura nicht befriedigte.
»Es hat so geklungen, als sei mit dieser Julia etwas Schlimmes passiert. Erinnerst du dich wirklich nicht?«
»Jette ist seit vielen Jahren geistig umnachtet. Ich habe keine Ahnung, was sie meinen könnte.«
Hoffentlich spürte Laura seine Verunsicherung nicht. Es war nicht seine Sache, ihr alles zu erzählen. Wieso hatte Jan sie überhaupt hierhergebracht? Er musste doch wissen, dass sie eines Tages alles erfahren würde. Wieso hatte er ihr dann nicht gleich alles erzählt? Wieso ließ er es darauf ankommen, dass sie irgendwann doch einmal mit der Geschichte konfrontiert sein würde? Wenn er nicht gewollt hätte, dass Laura diesen Teil seiner Vergangenheit kennenlernte, hätte er sie nur nicht hierherbringen müssen. Er hätte woanders mit ihr leben können.
»Ist ja auch egal. Ich war nur ziemlich erschrocken, als sie so auf mich zukam und mich mit Julia ansprach.« Laura lachte ein wenig auf. »Vielleicht hab ich ja eine Doppelgängerin. Obwohl ich den Gedanken, dass es irgendwo eine Frau gibt, die genauso aussieht wie ich, ziemlich unwitzig finde.«
Sie sah nicht aus wie Julia. Sicher, sie hatte eine ähnliche Statur und genauso dunkle Haare. Aber alles andere– ihre Augen, ihr Mund, ihr Lachen–, das hatte nichts mit Julia zu tun. Jette musste noch verwirrter sein, als alle dachten, wenn sie Julia mit Laura verwechselte.
Jette hatte damals– an dem Tag, an dem Julia verschwunden war– einen Schlaganfall erlitten. Man hatte sie im Wald gefunden, sie hatte ohne Bewusstsein dort gelegen. Eine Zeit lang waren die Ärzte nicht sicher gewesen, ob sie überleben würde. Und als sie sich dann irgendwann doch erholt hatte, war allen klar gewesen, dass sie nie mehr so sein würde wie früher.
»Ich hab ihr versprochen, dass ich sie mal besuchen werde. Wer weiß, vielleicht krieg ich dann ja raus, wer diese Julia ist und wieso sie mich mit ihr verwechselt. Vielleicht werde ich sie ja sogar kennenlernen.«
Sie hätte nie hierher kommen dürfen. Hanno wusste in diesem Moment nicht, ob er damit Laura meinte oder Julia. Beide, dachte er schließlich, beide hätten nicht hierher kommen dürfen. Julia nicht und Laura auch nicht. Er ahnte, dass die Ruhe, zu der sie in den letzten Jahren so mühsam zurückgefunden hatten, bald zu Ende sein würde. Alles, was in einem Leben geschieht, hat Konsequenzen, dachte er. Er sah Laura an, die so zuversichtlich und arglos vor ihm stand, und sein Herz zog sich zusammen, als er daran dachte, was passieren würde. Zehn Jahre lang war das Geheimnis um Julia nicht gelüftet worden. Sie hatten sich sicher gefühlt. Und doch, wenn er ehrlich war, hatte in ihm immer diese leise Furcht gewohnt, dass eines Tages alles ans Licht kommen würde. Und dann würde nichts mehr so sein, wie es gewesen war, nichts mehr so, wie sie es sich verzweifelt vorgemacht hatten.
»Hilfe.«
Das Wispern kroch in Lauras Träume. Es passte nicht zu den sonnigen Wiesen, durch die sie gerade mit Shadow tobte. Und doch war es da. Laura drehte sich unruhig auf die
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