Das Jahr der Kraniche - Roman
wenn es sich in allen quälenden Einzelheiten daran erinnern könnte, wie einsam und verlassen und voller Angst es gewesen war, als Blitz und Donner die Nacht über ihm zerrissen hatten und es fürchten musste, dass die Welt in diesem Moment unterging.
»Küchenpsychologie«, hatte Laura gelacht. Wenn das alles wirklich so gewesen wäre, dann hätte es den Berufsstand der Psychologen nicht geben müssen. Es gab doch überhaupt keinen Zweifel daran, dass jeder Schmerz, jede Qual, jede Angst und jede Unsicherheit, die man erfahren hatte, in einem Menschen nachwirkten und das Leben nachhaltig veränderten.
»Das mag bei manchen so sein. Aber ganz sicher nicht bei allen. Würde es sonst Kriege geben? Hätten die Männer, die die Schrecken des Ersten Weltkriegs erlebt hatten, nicht alles getan, um nicht auch den Zweiten noch mitmachen zu müssen? Dass es anders kam, war nur möglich gewesen, weil ihre Seele einen gnädigen Vorhang vor ihr Erleben gezogen hatte.«
»Du meinst also, dass man aus Erfahrung nicht klug wird?«
Laura hatte es nicht fassen können. Kein Kind könnte sicher aufwachsen, wenn diese Regel nicht gelten würde. Einmal an die Kerzenflamme gefasst, würde es sich nie mehr die Finger am Feuer verbrennen, weil es sich genau an den damit verbundenen Schmerz erinnerte.
»Aber einmal zu viel getrunken und einen grauenhaften Kater davongetragen zu haben schützt die wenigsten davor, es wieder zu tun.«
Laura lachte in sich hinein, als sie sich an die hitzigen Diskussionen mit ihrer Mutter erinnerte. Im Grunde war sie sicher, dass ihre Mutter unrecht hatte. Es zeichnete den Menschen doch gerade aus, dass er aus Erfahrungen lernte, dass er Situationen, in denen er Angst gehabt hatte, in Zukunft aus dem Weg ging, dass er Qualen, die er erlitten hatte, nicht noch einmal ausgesetzt werden wollte. Und das nur deswegen, weil er sich eben an diese Qualen, diese Schmerzen, diese Ängste erinnerte. Aber sollte das bedeuten, dass sie nun nie mehr in einen Wald gehen würde, nur weil es ihr vorhin plötzlich so unheimlich gewesen war? Würde sie fortan auf den Wegen bleiben, die ihr Sicherheit versprachen? Würde sie es vermeiden, in Situationen zu kommen, in denen sie die Orientierung oder den Boden unter den Füßen verlieren konnte? Schon merkte sie, dass sie nicht mehr genau wusste, was da eigentlich im Moorwald mit ihr geschehen war. Oder doch, sie wusste es ganz genau: Durch den Nebel war ihr die Umgebung plötzlich fremd erschienen. Weil Shadow verschwunden war, hatte sie sich allein gefühlt. Geräusche, die sie sonst einzuordnen wusste, hatten einen merkwürdigen Klang bekommen. Sogar ein harmloser Vogel wie der Kranich hatte sie in Panik versetzt. Jetzt, in der Sonne, schien ihr das plötzlich alles so banal. Genauso banal wie die Schrecken, die sie nächtens im Jägerhaus erlebt hatte. Es waren einfach ungewohnte Kleinigkeiten, die sie irritiert hatten. Nicht der Rede wert. Sie musste sich nicht einmal einreden, dass das alles ganz harmlos sei. Denn es war harmlos. Bei Lichte betrachtet gab es für alles eine Erklärung. Nichts blieb übrig von dem Schrecken, den sie erlebt hatte, und sogar die vage Erinnerung an das Parfumfläschchen, das so plötzlich wieder aufgetaucht zu sein schien, fing jetzt schon an zu verblassen. Wer weiß, vielleicht war der Schrecken nur eine ganz normale, gesunde Reaktion auf die unerwartete Begegnung mit etwas Neuem, Unbekannten gewesen.
»Guten Tag.«
Laura blieb stehen und sah sich verblüfft um. Der Mann, der vom Hochstand herunterstieg, lächelte.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Er sah sie aus braunen Augen, um die sich nette kleine Falten bildeten, freundlich an.
»Hallo. Das müssen ganz großartige Fotos geworden sein.«
»Ich hoffe es. Die Stimmung vorher war jedenfalls perfekt. Wenn ich da was vergeigt habe, kann ich eigentlich meinen Beruf aufgeben.«
Laura sah den Fremden neugierig an: ein Fotograf, attraktiv, charmant, selbstironisch.
»Wo kann man Ihre Fotos denn sehen? Machen Sie eine Ausstellung? Ich meine… tut mir leid, wenn ich neugierig bin, aber nach Ihrer Ausstattung zu urteilen machen Sie das wohl profimäßig.«
»Entschuldigung, ich habe mich nicht vorgestellt. Michael Persius, Fotograf.«
Er senkte leicht den Kopf und sah sie dabei grinsend an.
Manche Männer sind einfach unverbesserlich. Die flirten mit allem, was bei drei nicht auf dem Baum ist. Egal, wie alt sie sind.
Als sie sich vorstellte, ging ein Erstaunen
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