Das Jahr der Kraniche - Roman
Tag auf den anderen hatte er damit Schluss gemacht. Jetzt aber war sie plötzlich wieder da, die Lust, das, was diese Frau, die da so unbefangen vor ihm stand, ausmachte, in ein Foto zu bannen. Die Präsenz, die er schon wahrgenommen hatte, als sie noch weit von ihm entfernt am Waldrand gestanden hatte, war jetzt noch deutlicher zu spüren. Da war etwas hinter der hübschen jungen Fassade, das ihn reizte.
»Vielleicht haben Sie ja mal Lust, zu uns zum Essen zu kommen?«
Laura war neugierig auf das, was ihr dieser Mann über ihre Schwiegereltern zu erzählen hatte. Er behauptete zwar, dass er sie nur flüchtig gekannt habe, aber in der Stille, die darauf folgte, hatte sie gespürt, dass da mehr war. Sein Blick war plötzlich durch sie hindurchgegangen, als würde er eine Erinnerung einfangen wollen, und sein Gesichtsausdruck war ein wenig sehnsuchtsvoll geworden.
»Gern. Ich bin wirklich neugierig darauf, was Sie aus dem Haus gemacht haben. Ich meine, Sie haben doch sicher etwas verändert? In so einem dunklen alten Kasten müsste man ja sonst depressiv werden.«
So hatte er das Haus also empfunden. Merkwürdig. Natürlich war ihr das Haus auf den ersten Blick auch ein wenig düster erschienen, aber dass man darin depressiv werden konnte, daran hatte sie noch nie gedacht.
Im Gegenteil. Ich hab ’ s doch vom ersten Augenblick an geliebt.
Da war sie wieder, diese wundersame Fähigkeit des Verdrängens.
Ich hab Stimmen gehört. Ich hab gespürt, dass da jemand war. Ich bin panisch aus dem Haus geflohen. Und jetzt wundere ich mich, dass jemand sagt, man könnte darin depressiv werden?
» Entschuldigen Sie, ich war wohl ein bisschen zu vorlaut. Natürlich ist es ein ganz wunderbares Haus. Ich… na ja… damals war ’ s vielleicht nicht so ganz mein Stil. Ich hab es halt immer gern hell gehabt. Viel Weiß, wenig Möbel, irgendwie mehr so puristisch. Und da Sie noch so jung sind, hab ich mir im ersten Moment nicht vorstellen können, dass Sie da eingezogen sind, ohne etwas zu verändern.«
Gott sei Dank, sie lachte. Es hätte Michael Persius geärgert, wenn er Laura mit seiner schnellen Beurteilung verstimmt hätte. Er wollte sie wiedersehen. Er wollte wirklich sehen, wie sie in diesem Haus zurechtkam. Und vielleicht wollte er auch, wenn er das Gefühl hatte, dass dort etwas nicht stimmte, zur rechten Zeit am rechten Ort sein.
»Laura. Ich bin wieder da. Laura?«
Der stechende Schmerz in seinem Herzen raubte Jan für einen Moment den Atem. Wie hatte er nur annehmen können, dass es nicht wieder geschehen würde? Wie hatte er denken können, dass das Schicksal gnädig mit ihm sein und ihm eine zweite Chance geben würde? Wie hatte er erwarten können, dass seine Frau noch da sein würde, wenn er wiederkam?
»Du bist schon zurück? Wieso hast du denn nicht angerufen?«
Laura warf die Jacke in die Ecke, schlüpfte aus den Gummistiefeln und hing schon an seinem Hals.
»Hallo, mein Liebster. Ist das schön, dass du da bist!«
Ihre Küsse bedeckten sein Gesicht, ihre Arme umschlangen ihn. Sie strahlte wie ein Kind vor dem Weihnachtsbaum.
»Ist alles gut gelaufen? Wirst du an dem Wettbewerb teilnehmen? Willst du was essen?«
Jans Erleichterung war grenzenlos. So musste es sein. So hatte er es sich vorgestellt. Er kam nach Hause, und die Frau, die er liebte, war außer sich vor Freude, ihn wiederzusehen. Sie zog ihn an der Hand mit sich.
»Komm, du musst dir alles ansehen. Ich bin irre fleißig gewesen.«
Die Überraschung, als sie die Tür zum Wohnzimmer aufriss, traf ihn wie ein Schock. Der Raum strahlte hell. Sie hatte die früher dunkelroten Wände mit einem zarten Hellblau gestrichen, hatte die schweren Ölschinken durch ein paar starkfarbig leuchtende Drucke ersetzt, und weiße Kerzen standen zu Dutzenden auf dem Couchtisch und dem Kaminsims. Über das alte Ledersofa hatte sie eine geblümte Decke geworfen. Überall standen Blumen, Sonnenblumen, dicke Rosensträuße. An den Fenstern wehten leichte, hellblaue Stores im Wind.
»Jetzt sag schon was! Sag, dass es dir gefällt.«
Wieso sagt er nichts? War ich zu voreilig? Hätte ich ihn doch erst nochmals fragen müssen, ob das in Ordnung ist?
Jan war sprachlos. Nichts war mehr übrig von der Strenge, die der Raum ausgestrahlt hatte, solange er sich erinnern konnte. Er wirkte leicht und heiter, lebendig, so wie die Frau, die ihn jetzt bangend ansah. Mit ein paar Handstrichen hatte sie es geschafft, sich den Rahmen zu schaffen, der zu ihr passte.
»Du magst
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