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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Gott sei Dank hatte sie sich im letzten Moment, bevor sie das Haus verließ, noch entschlossen, die Gummistiefel anzuziehen. So blieben wenigstens ihre Füße trocken. Ein dicker Tropfen klatschte auf ihren Kopf, rann über ihre Stirn an der Nase entlang. Sie hob die Hand, um sich über das Gesicht zu wischen. Da sah sie es. Der große, graue Vogel musste durch ihre hastige Bewegung aufgeschreckt worden sein. Wie ein Geist tauchte er hinter der dicken Buche auf, die ganz in der Nähe stand. Sein Kopf drehte sich zu ihr. Einen Augenblick lang fixierte sie das kalte, schwarze Auge des Kranichs. Dann drehte er sich weg und verschwand staksend in der Unwirklichkeit des Moorwaldes.
    Es klang wie ein Keuchen, als sie endlich wieder wagte zu atmen. Es war nichts. Nur ein Vogel, ein harmloser Vogel.
    Shadows Bellen brachte die Wirklichkeit wieder zu Laura zurück. Es klang weit entfernt, aber es war real.
    »Shadow! Hier bin ich. Shadow, hierher!«
    Der Hund tauchte in aufgeregtem Galopp aus der Düsternis auf, platschte durch das Wasser, sprang über Wurzeln und Äste und hüpfte in unbändiger Freude an Laura hoch. Sein Bellen ging in atemloses Japsen über, das sich, als er wie ein Gummiball vor ihr auf und nieder hüpfte, in das hohe Fiepen verwandelte, das Laura als Ausdruck höchster Begeisterung erkannte.
    Die irreale Kulisse wurde in dem Moment, als Shadow tobend auf der Bildfläche erschien, schlagartig mit Leben erfüllt. Laura spürte, wie das Blut in ihren Adern wieder floss, kleine Vögel huschten zwischen den Zweigen der Bäume hin und her, Frösche hoben plötzlich ein brüllendes Konzert an. Wind frischte auf und erweckte die starren Buchen zu rauschendem Leben.
    »Komm jetzt, du Rumtreiber, gehen wir nach Hause.«
    Laura legte dem verdutzten Shadow die Leine an. Er schüttelte und wand sich, sah sie mit vorwurfsvollem Blick an. Seit wann machte sie denn so etwas? Noch nie hatte er im Wald an der Leine gehen müssen. Doch Laura wollte sicher sein, dass der Hund nicht wieder davonspurtete und sie ein zweites Mal allein ließ. Außerdem glaubte sie, dass Shadow instinktiv einen sicheren Weg aus dem Moor herausfinden würde. Sie würde ihm dicht auf den Fersen folgen.
    Der Mann hatte sich mit seiner Kamera auf einen Hochstand zurückgezogen, den das Forstamt am Waldrand aufgestellt hatte. Die erhöhte Sicht auf das weite Tal, in dem der Nebel sein geheimnisvolles Spiel trieb, würde ihm noch ein paar außergewöhnliche Fotos bringen. Nie war diese alte Kulturlandschaft, in der sich weite Ackerflächen mit kleinteiligen Kiefernhainen und Tümpeln abwechselten, mit Bächen, die sich durch sanft gewellte Wiesen schlängelten, mit undurchdringlichen Brombeerhecken und mit von Schafen kurz gehaltenen Trockenwiesen, mystischer als zu jenen Zeiten, wenn die Nebel sich wie ein mehr oder weniger durchsichtiger Schleier darüberlegten. Er war seit einigen Jahren immer wieder in diese Gegend gekommen, um Fotos zu machen. Das erste Mal noch etwas widerwillig. Unwissend, würde er heute sagen, ignorant sogar. Er hatte viel Zeit seines Lebens im Ausland verbracht und dort die spektakulärsten Landschaften fotografiert. Vom Grand Canyon über Ayers Rock und die Namib-Wüste bis zu den Hochtälern Perus– alles hatte er fotografiert, hatte Reiseartikel dazu geschrieben, Fotobände herausgegeben und auch mal einen Film gedreht. Und dann, die Uckermark, eine deutsche Landschaft. Nichts hatte ihn zu jener Zeit weniger interessiert, nichts weniger gereizt als eine Reise in den Osten Deutschlands, um Fotos von einer Landschaft zu machen, die er von vornherein als zwar möglicherweise nett, aber auf jeden Fall als typisch lieblich und uninteressant deutsch bezeichnet hätte. Er hatte vier Tage bleiben wollen. Nun war er zum vierten Mal wieder hier. Die Uckermark war zum Thema seines Lebens geworden. Mit jeder neuen Reise hatte er weitere Seiten dieser abwechslungsreichen Landschaft kennengelernt, die sich an einem einzigen Tag zuerst in kühler, abweisend spröder Rauheit, kurz darauf in heiß glühender Lebenspracht und schließlich in dämmerschöner, rot glühender Sonnenuntergangsstimmung zu präsentieren wusste. Die berauschendste Entdeckung aber war für ihn gewesen, dass sich die Zeiten, in denen er sich in anderen Teilen der Welt frustriert ins Hotelzimmer zurückgezogen hatte, weil sie einfach überhaupt kein gutes Foto hergaben– nämlich die Zeiten des sogenannten schlechten

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