Das Jahr der Kraniche - Roman
Hund blieb verschwunden. Vielleicht hatte er eine Spur gefunden, die ihn so reizte, dass er Laura einfach vergessen hatte. Die Nase am Boden konnte er viele Meter weit rennen, oft so weit, dass Laura ihn auch bei schönem Wetter kurzzeitig aus den Augen verlor. Doch normalerweise endete seine Jagd am Eingang eines Kaninchenbaus, in den sich das Objekt seiner Begierde geflüchtet hatte, und Shadow drehte sich nach kurzem, enttäuschtem Warten um, um zu Laura zurückzukehren. Da es ihm, wie Laura bald erkannt hatte, nicht um die Beute als solche zu gehen schien, sondern eher um die Lust am Stöbern und Suchen, hatte sie keine Bedenken, dass er einmal ein Tier riss. Wovor sie allerdings tatsächlich Angst hatte, war, dass Shadow auf seinen Touren einmal einem Wildschwein begegnen würde, womöglich noch einer Bache mit Jungen, die alles tun würde, um ihre Nachkommen zu verteidigen. Gegen ein rabiates Wildschwein, dessen Hauer eine tödliche Waffe sein konnten, würde Shadow keine Chance haben. Laura hatte davon gehört, dass Hunde, die sich zu nah an die Tiere herangewagt hatten, schwere Verletzungen davontrugen. Manche hatten sich mit aufgerissenem Bauch zu ihrem Herrchen zurückgeschleppt, konnten aber nicht einmal durch eine Notoperation in der Tierklinik gerettet werden. Laura lauschte in die Stille. Dass sie wenigstens nicht das Schnauben und aufgeregte Schreien eines angreifenden Wildschweins hörte, beruhigte sie. Am besten wäre es wohl, sie würde nach Hause gehen. Dorthin würde Shadow auf jeden Fall kommen, wenn er sie im Wald nicht mehr finden konnte.
Als sie spürte, wie ihr rechter Fuß plötzlich im Wasser versank, erfasste sie ein Grausen. Das war doch nicht möglich! War sie wirklich so weit vom Weg abgekommen, dass sie nun im Moor gelandet war? Mühsam versuchte sie den Untergrund zu erkennen und sah, dass die Bäume um sie herum im Wasser standen. Jan hatte sie vor dem Moor gewarnt. Nicht nur, weil viele Moore der Uckermark unter Naturschutz standen und es verboten war, sie zu betreten: Man konnte sich heillos in ihnen verirren. Und es war auch schon vorgekommen, dass ein erschöpfter Irrgänger in einem der tiefen Gumpen, die es hin und wieder gab, ertrunken war.
»Wenn du im Moor umkommst, ist die Chance, dass man dich findet, nicht sehr groß.«
Sie hatte laut gelacht, als Jan sie derart gewarnt hatte.
Mit Gruselmärchen hatte man sie noch nie schocken können. Schon als kleines Mädchen hatte sie Geschichten über Gespenster und Geister, Untote und Vampire zwar spannend, aber nicht wirklich furchterregend gefunden. Wobei ihr allerdings Märchen wie »Hänsel und Gretel« oder auch »Schneewittchen«, in denen die Helden im tiefen Wald ausgesetzt und allein gelassen wurden, einen wirklichen Schrecken hatten einjagen können. Die Bedrohung des Verlassenwerdens hatte sie immer als viel realer empfunden als die durch irgendwelche grausamen Gestalten, die doch nur in der Fantasie existierten.
Wo ist nur dieser Hund?
Als sie hinter sich ein flaches Geräusch hörte, war sie im ersten Moment erleichtert.
Da ist er ja!
Doch gleichzeitig wusste sie, dass das trockene Knacken, das ihr jetzt unter die Haut zu kriechen schien, nicht von einem so großen Hund wie Shadow stammen konnte. Wenn Shadow auf sie zutobte, bebte die Erde regelrecht. Seine breiten Pfoten platschten über den Untergrund, sein Hecheln kam dem keuchenden Atem eines Hundertmeterläufers gleich. Aber dieses Geräusch hier war fast tonlos. Sie fühlte es eher, als dass sie es hörte. Im wabernden Nebel versuchte sie etwas zu erkennen. Wahrscheinlich war ja nur ein Blatt von einem Baum gesegelt. Oder ein kleiner Ast zu Boden gefallen. Da war es wieder. Dem leisen Knacken folgte ein Glucksen, so wie sie es einmal in Island gehört hatte, als sie die Aktivität eines kleinen Geysirs beobachtet hatte. Da sah sie es: einen Schatten, der durch die verschwimmenden Bäume huschte. Sie hielt den Atem an. Sie war hier nicht allein. Irgendwer oder irgendetwas hatte sich genau wie sie im Moor verirrt. Jetzt war es wieder still. Der Schatten hatte sich zwischen den Bäumen verloren. Konnte es sein, dass der andere genau wie sie stillstand und in das Grau lauschte? Lief ihm genau wie ihr ein Schauder über den Rücken?
»Hallo?«
Ihre Stimme klang rau, als hätte sie tagelang nicht geredet. Sie räusperte sich.
»Hallo? Haben Sie sich auch verirrt?«
Der andere antwortete nicht. Vorsichtig tastete sie sich durch den feuchten Untergrund in die
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