Das Jahr der Kraniche - Roman
irgendwelche negativen Schwingungen gespürt, die vielleicht meine Mutter hinterlassen haben könnte. Ich war einfach nicht der Mann, mit dem sie leben wollte, und sie war nicht die Frau, die zu mir gepasst hat. Deswegen haben wir es beendet.«
Niemand hatte ihr bis jetzt gesagt, wie diese Julia eigentlich ausgesehen hatte. Weder Jan noch Hanno noch Elke.
»Wenn ich blond wäre, hättest du dich dann auch in mich verliebt?«
Er sah sie überrascht an.
»Was ist denn das für eine Frage? Ich habe keine Ahnung… vermutlich ja… Ich meine, es kommt doch nicht auf die Haarfarbe an.«
»Aber als du mich zum ersten Mal gesehen hast, in diesem fiesen Regen… Ich meine, es war eine Frau mit langen schwarzen Haaren, die du von der Straße gerissen hast.«
Sie wusste nicht einmal, ob sie recht hatte. Sie hatte kein Foto von Julia gesehen, hatte keine Ahnung, ob sie der Frau aus ihrem Traum eigentlich glich. Vielleicht hatte sie ja einen hellblonden Raspelhaarschnitt gehabt oder rote Locken.
»Sie hatte doch lange dunkle Haare, oder?«
Jetzt verstand er sie.
»Ja. Sie hatte eine ähnliche Haarfarbe wie du. Woher weißt du das überhaupt?«
Sie würde ihm nichts von diesem Traum erzählen. Schon wieder etwas, was sie ihm nicht erzählen wollte. Sie schlang die Arme um sich. Obwohl die Nacht mild war, begann sie zu frösteln. Hatten sie nicht gesagt, dass sie ehrlich zueinander sein wollten? Hatte sie nicht gedacht, dass sie diesem Mann alles erzählen würde? Und nun reihten sich die Erlebnisse an Träume, an Ängste, an Zweifel, die sie ihm alle nicht mitteilen wollte. Wieso eigentlich nicht? Sie spürte seinen forschenden Blick auf sich.
»Keine Ahnung. Hab einfach geraten.«
Sie musste sich bremsen. Sie durfte sich nicht verrückt machen mit solchen Gedanken. Meine Güte, sie hatte mal gelesen, dass nur zwei Prozent der Weltbevölkerung blond sind. Und in Deutschland sollte es nur maximal fünfundzwanzig Prozent Blonde geben. Also war es sogar eher wahrscheinlich, dass sich ein Mann zweimal in eine dunkelhaarige Frau verliebte. Es hatte rein gar nichts damit zu tun, dass Jans letzte Freundin die gleiche Haarfarbe gehabt hatte wie sie. Und vermutlich war es auch ganz normal, dass sie als Brünette auch von einer brünetten Frau träumte. Am Ende war die Frau im roten Kleid, der Jan hinterhergelaufen war, niemand anders als sie selbst.
Träume sind Schäume. Egal, was der alte Freud dazu sagen würde.
»Du glaubst, ich suche eine zweite Julia? Du glaubst das wirklich?«
»Selbst wenn es so wäre, selbst wenn du eine zweite Julia gesucht hättest, Jan– gefunden hast du mich, Laura. Ich bin nicht Julia. Ich bin Laura.«
Sie wollte nicht mehr darüber reden. Sie wollte diesen Mist einfach aus ihrem Kopf bekommen. Sie zog Jan zu sich ins Bett und kuschelte sich in seine Armbeuge. Sie wollte wieder einschlafen, und sie war fest entschlossen, Julia nicht wieder in ihre Träume zu lassen.
Jan spürte, wie Lauras Glieder schwer wurden. In kurzer Zeit war sie eingeschlafen. Er drückte seine Lippen auf ihr Haar. Ein leichter Duft von Shalimar stieg ihm in die Nase.
Das Parfum, das Julia benutzt hatte.
Es waren nicht Lauras lange Haare gewesen, die ihn an Julia erinnert hatten, sondern ihr Duft. Und das war nicht an jenem Regenabend gewesen, als er sie vor dem heranrasenden Auto gerettet hatte. Da war sie aus der Klinik gekommen, und zur Arbeit, hatte sie ihm später erzählt, ging sie immer ohne Parfum.
Am Morgen nach ihrer ersten Begegnung, als er in der Küche einen Kaffee für sie machte, hatte sie plötzlich hinter ihm gestanden in ihrem dünnen Morgenmantel. Und da hatte er ihn gerochen, den Duft der Frau, die ihm das Herz gebrochen hatte. Ohne dass er es hatte verhindern können, war plötzlich Julia wieder da gewesen, sehr präsent in Lauras kleiner Küche. Die Erinnerung an sie hatte ihn einen Moment lang überwältigt. Er war drauf und dran gewesen, einfach zu gehen und nicht wiederzukommen, denn er war sich selbst nicht sicher gewesen, ob er in Laura nicht vielleicht Julia suchte.
Aber die Gegenwart hatte die Vergangenheit besiegt. Lauras offene Fröhlichkeit, ihre Lebenslust, ihre Neugier und ihre leidenschaftliche Bereitschaft, sich auf ihn einzulassen, drängten Julia und alles, was zwischen ihr und ihm gewesen war, schnell in der Hintergrund. So sehr, dass er sich inzwischen nicht mehr vorstellen konnte, dass er jemals auch nur den Ansatz einer Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen gefunden
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