Das Jahr der Kraniche - Roman
dem er das gemähte Gras um das Haus herum sorgsam zusammengerecht hatte, einen Moment lang fester umklammert. Wieso blieb der Kleine so lange unter Wasser? Gerade als er losrennen wollte, um sich in den See zu stürzen und nach dem Jungen zu suchen, tauchte Jan aus den Fluten wieder auf. Seine Augen glühten vor Stolz, als er ans Ufer schwamm.
»Das waren mindestens zwanzig Meter. Rekord!«, schrie er, nach Luft ringend. »Hast du es gesehen, Hanno? Hast du gesehen, wie ich geflogen bin?«
Eine sorglose Zeit war das gewesen. Wie ein endloser Sommer. Wolkenlos. Strahlend. Glücklich. Was war es für eine Freude gewesen, diesen Jungen aufwachsen zu sehen, der sich wie eine Klette an ihn gehängt und ihn bei allen seinen Tätigkeiten begleitet hatte. Neugierig, mit vor Wissbegierde glänzenden Augen, immer in Bewegung, immer auf der Suche nach einem neuen Abenteuer. Furchtlos hatte er ihm geholfen, wilde Bienenschwärme einzufangen. Auf dem Bauch war er in verlassene Fuchsbauten gerobbt, so weit, dass Hanno ihn an den Beinen wieder herausziehen musste. Er hatte nach Flusskrebsen getaucht, bis ihm die Luft ausging, und in warmen Sommernächten hatte er neben ihm auf dem Rücken gelegen und sich die Sternbilder erklären lassen. Und wenn an eiskalten Herbstabenden die untergehende Sonne den Himmel in türkis-rosafarbene Seidentücher gehüllt hatte, hatte er bibbernd vor Kälte die Ankunft der Kranichschwärme erwartet.
»Wo sind sie den ganzen Sommer gewesen? Woher wissen sie, welchen Weg sie fliegen müssen? Wo fliegen sie hin?«
Seine Hand hatte sich fest in seine Hosenbeine gekrallt, als das Rauschen der Flügel und das Schreien der großen Vögel die Luft zittern ließ.
»Wenn ich groß bin, fahre ich nach Spanien. Und dann suche ich den Platz, wo sie im Winter sind.«
Seine Stimme hatte vor Abenteuerlust gezittert. Dass eine Mauer das Land, in dem er lebte, umschloss, wusste er nicht. Und dass sie kaum zehn Jahre später fallen und sich die Welt verändern würde, noch weniger.
Eines Tages war Jan weggeflogen. Kurz nachdem die Kraniche sich auf die Reise nach dem Süden gemacht hatten war er einfach verschwunden. Hanno hatte einen Winter lang gehofft, dass er im Frühjahr ebenso zurückkehren würde wie die gefiederten Glücksboten. Doch die Kraniche kamen allein. Jan hatte den Weg nach Hause nicht mehr gefunden.
»Ich hab gesehen, dass die Fenster offen sind.«
Elkes Stimme riss Hanno aus seinen Gedanken. Seine Tochter hielt einen dicken Bund Kirschzweige, deren glänzende Knospen bald aufbrechen würden, in den Armen. Die Sonne, die durch die Fenster schien, ließ ihr blondes Haar aufleuchten.
»Jan kommt nach Hause. Da will ich vorher noch schnell Ordnung machen und vor allem Luft und Sonne ins Haus lassen.«
Er ignorierte den Schatten, der einen Moment lang Elkes hellblaue Augen verdüsterte.
»Wie schön«, sagte sie. »Dann kommt endlich wieder Leben in das Haus. Es war ein Jammer, dass es so lange leer stehen musste.«
Ja, es war wirklich ein Jammer. Aber es war auch richtig gewesen, dass Jan fortgegangen war. Zu viel hatte er in diesem Haus erlebt, das ihn nicht losließ. Zu schwer hatte die Erinnerung an das Geschehene auf ihm gelastet.
»Weißt du, wie lange er bleiben wird?«
Auf Elkes Gesicht war die Spannung, unter der sie stand, deutlich zu sehen. Nervös strich sie sich diese widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich weder durch Haarklammern noch durch Spray oder Gel bändigen ließ. Es war Jan gewesen, der eines Tages einfach zur Schere gegriffen und die Strähne kurzerhand abgeschnitten hatte, die der damals Achtjährigen immer in die Augen hing. Ganz kurz über der Kopfhaut hatte er sie abgesäbelt, sehr zu Elkes Freude, die jubelnd schrie, dass sie nun wie ein richtiger Punk aussehen würde. Hanno hatte Jan die Leviten gelesen. In seinen Augen hatte der Junge seine hübsche kleine Tochter geradezu verschandelt.
»Ach komm, Hanno, stell dich nicht so an. Haare wachsen wieder. Und bis die Strähne das nächste Mal zu lang ist, hat Elke eine ganze Weile Ruhe.«
Das kleine Mädchen hatte den Achtzehnjährigen für seinen Schneid bewundert, hatte glückstrahlend neben ihm gestanden und die Hand in die seine gelegt. Nichts, was Jan je tat, hatte ihr missfallen. Er war der Held ihrer Kindheit gewesen, der große Junge, der sie liebte wie eine kleine Schwester. Und an dem sie klebte wie Pech. Fast so, wie Jan als kleiner Junge damals an ihrem Vater geklebt hatte.
»Wenn ich
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