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Das Jahr der Kriesen

Das Jahr der Kriesen

Titel: Das Jahr der Kriesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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ertragen konnte. Für sie mußten die Dinge entweder dies oder das sein, A oder nicht A – Myra machte von Aristoteles’ Gesetz der ausgeschlossenen Mitte Gebrauch wie kein anderer, den er kannte. Er bewunderte sie. Myra war eine hübsche, äußerst gut erzogene Frau, hellhaarig, Mitte Vierzig. Sie saß ihm aufrecht und adrett in ihrem gelben Mondquitschfroschkostüm gegenüber, die Beine lang und ohne Makel. Allein ihr scharf geschnittenes Kinn verriet – für Tito wenigstens – die Härte, den Bitte-kein-Unsinn-Aspekt ihrer Persönlichkeit. Myra war in erster Linie eine Geschäftsfrau, vor allem anderen. Als eine der ersten Autoritäten des Landes auf dem Gebiet der therapeutischen Abtreibungen war sie hochbezahlt und hochgeehrt... und sie war sich dessen wohlbewußt. Schließlich war sie schon seit Jahren dabei. Und Tito respektierte jeden, der als unabhängige Geschäftsperson lebte. Schließlich war auch er sein eigener Boß, niemandem verpflichtet, keiner subventionierenden Organisation oder wirtschaftlichen juristischen Person. Er und Myra hatten etwas gemeinsam. Auch wenn Myra dies natürlich geleugnet hätte, so war Myra Sands doch ein schrecklicher, verdammter Snob. Für sie war Tito Cravelli ein Angestellter, den sie eingestellt hatte, um bestimmte Informationen über ihren Mann herauszufinden – oder vielmehr als Tatsache zu etablieren.
    Er konnte sich nicht vorstellen, weshalb Lurton Sands sie geheiratet hatte. Sicher war es von Anfang an ein Konflikt gewesen – psychologisch, sozial, sexuell, beruflich.
    Wie auch immer – es gab keine Erklärung für den chemischen Vorgang, der Männer und Frauen verband, sie manchmal neunzig Jahre lang ununterbrochen in Umarmungen des Hasses und gegenseitigen Leidens zusammenschloß. In seiner Laufbahn hatte Tito eine Menge davon gesehen, genug, daß es ihm sogar auf Jerry-Lebenszeit reichte.
    »Rufen Sie das Lattimore-Hospital in San Francisco an«, beauftragte ihn Myra in ihrer knappen, wachsam gebieterischen Stimme. »Im August hat Lurton dort einem Army-Major eine Milz verpflanzt – ich glaube, sein Name war Walleck oder irgendwas in der Art. Ich erinnere mich, zu der Zeit hatte Lurton... wie soll ich sagen? Ein bißchen zuviel getrunken gehabt. Es war Abend, und wir saßen beim Abendessen. Lurton platzte mit der einen oder anderen verdammten Sache heraus. Über ›schwer bezahlen‹ für die Milz. Sie wissen, Tito, daß die BfLO-Preise von der UN starr festgelegt sind, und sie sind nicht hoch. Faktisch sind sie zu niedrig... Das ist der Hauptgrund, warum der Stiftung gewisse lebenswichtige Organe so oft ausgehen. Nicht so sehr, weil es am Nachschub fehlt, sondern am Vorhandensein von zu vielen Empfängern.«
    »Hmmm«, machte Tito und kritzelte hastige Notizen hin.
    »Lurton hat immer gesagt, wenn die BFLO nur die Gebührensätze erhöhen würde, dann...«
    »Sie sind sicher, daß es eine Milz war?« warf Tito ein.
    »Ja.« Myra nickte knapp, atmete Streifen grauen Rauchs aus, die zu der Lampe hinter ihr wirbelten, eine Wolke, die im künstlichen Licht des Büros schwebte. Es war jetzt dunkel draußen – es war halb acht.
    »Eine Milz«, rekapitulierte Tito. »Im August dieses Jahres. Im Lattimore Hospital in San Francisco. Ein Major namens...«
    »Jetzt fange ich an zu glauben, daß es Wozzeck war«, warf Myra ein. »Oder ist das ein Opernkomponist?«
    »Es ist eine Oper«, sagte Tito. »Von Berg. Selten aufgeführt, heutzutage.« Er hob den Hörer des Vidphons ab. »Ich werde das Geschäftsbüro des Lattimore noch erwischen – es ist da draußen an der Küste erst halb fünf.«
    Myra erhob sich und streifte unruhig im Büro herum, wobei sie ihre behandschuhten Hände in einer Geste aneinanderrieb, die Tito irritierte und es ihm schwermachte, sich auf seinen Anruf zu konzentrieren.
    »Haben Sie schon zu Abend gegessen?« fragte er sie, während er auf den Anschluß wartete.
    »Nein. Aber ich esse nie vor halb neun oder neun. Es ist barbarisch, früher zu essen.«
    Tito sagte: »Kann ich Sie zum Essen einladen, Mrs. Sands? Ich kenne einen schrecklich guten, kleinen armenischen Laden im Village. Das Essen wird dort tatsächlich von Menschen zubereitet.«
    »Menschen? Im Vergleich zu was?«
    »Automatischen Nahrungsverarbeitungssystemen«, murmelte Tito. »Oder essen Sie nie in Autonahr-Restaurants?« Immerhin waren die Sands reich; möglicherweise war es für sie selbstverständlich, von Menschen zubereitetes Essen zu genießen. »Ich persönlich kann

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