Das Jahr der Maus
es rührend, daß er langsam alt wurde. Er saß auf einem hölzernen Stuhl vor einer aus rohen Brettern gezimmerten Wand.
»Hallo«, grüßte er. »Und wie heißt du?« Er betonte das du, als hätte er schon mit vielen anderen Leuten gesprochen.
»Billie«, antwortete sie. »Billie de Vaille. Billie ist aber ein Spitzname.« Sie schwieg verlegen.
»Wo wohnst du, Billie?«
»In Stratford East. London. Und wo bist du gerade?«
»Ich halte mich in Kanada auf. Ein Weilchen werde ich noch hierbleiben.«
»In der Zeitung steht, du seist in China.« Es klang vorwurfsvoll. Sie suchte förmlich nach Fehlern.
»Ich befinde mich auf dem Heimweg«, erklärte er.
Billie hegte die Befürchtung, es könnte sich um eines dieser todlangweiligen Programme halten, wie die, in denen man sich ärztlichen Rat einholen konnte.
»Du bestehst lediglich aus einer Liste mit Fragen und vorbereiteten Antworten«, warf sie dem Programm vor. Eamon lehnte sich noch lässiger auf seinem Stuhl zurück.
»Ich bin zwar eine Only Memory und eine Karte, aber so simpel funktioniere ich nicht«, entgegnete er.
Billie spürte einen Anflug von Panik. Das Programm unternahm nicht einmal den Versuch, sie zu täuschen.
»Ich reagiere, wie Eamon reagieren würde. Und der Transceiver aktualisiert laufend seine Persönlichkeit, je nachdem, welche neuen Erfahrungen er macht. Zum Beispiel bin ich nach China gereist, um mein Tai Chi aufzufrischen.«
»Ach ja, sein Tai Chi. Das gehört alles mit zu seinem Image.«
»Ich sollte einen berühmten Großmeister treffen, während er auf einem öffentlichen Platz seine Übungen vollführt. Also ging ich hin, aber dort hielten sich Tausende von Chinesen auf, die alle ihr Morgentraining absolvierten. Ich dachte mir: Da ich der einzige Europäer hier bin, wird er mich schon bemerken. Stundenlang tigerte ich auf und ab. Ich stellte mich sogar auf die Treppe eines Denkmals. Kein Großmeister in Sicht. Als ich dann zu meinem Guide zurückging, war sie wütend. ›Du hast den Großmeister beleidigt!‹ fauchte sie mich an. Der hatte nämlich darauf gewartet, daß ich auf ihn zuginge.«
Nicht schlecht, fand Billie. Sogar recht gut. Ein kleiner Scherz.
»Ich warte, bis du mir die Anekdote noch einmal erzählst«, spottete sie. »Dann weiß ich, wie leistungsstark dein Gedächtnisspeicher ist.« Sie schmunzelte.
»Mein Erinnerungsvermögen ist nicht besser und nicht schlechter als das deine.« Grinsend fletschte er seine großen Zähne. »Mal sehen, wie oft du dich wiederholst.«
Es wurde ein harter Winter, unter dem jeder zu leiden hatte. Billie merkte, daß Eamon ihr half, die Probleme zu bewältigen. Mrs. King von nebenan wäre um ein Haar an Unterkühlung gestorben. Um halb sechs Uhr morgens hörte Billie, wie die Polizei die Wohnungstür der alten Dame aufbrach.
»Ich habe einen Schlüssel, das ist doch nicht nötig«, stammelte Billie, doch die Polizisten nahmen keine Notiz von ihr. Mrs. King war verwirrt, wollte aber nicht ins Krankenhaus. Die Polizei rief ihre Tochter an, und jemand äußerte in Mrs. Kings Beisein: »Die Tochter schert sich einen Scheißdreck um ihre Mutter.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Billie. »Wenn sie sagte, sie würde herkommen, dann ist sie bestimmt schon unterwegs.«
Billie blieb bei Mrs. King und hielt ihre Hand. Das beschwichtigte ein wenig Billies Schuldgefühle, weil sie die Polizei nicht daran hatte hindern können, die Tür zu zertrümmern. Im Zimmer war es eiskalt, und es miefte nach der Ausdünstung von alten Leuten. Billie schaltete den Heizstrahler ein. Diskret hielt sie sich den Zeigefinger vor die Nase und schaffte es trotzdem, zu lächeln und zu plaudern.
Mrs. King erzählte von der Hochzeit ihrer Tochter. Die alte Frau hatte die ganze Nacht lang auf dem Fußboden gelegen. Plötzlich sah Billie die plattgedrückten Exkremente auf dem Teppich; auch an ihren Schuhen klebte Kot. Billie fing an zu würgen und mußte aus dem Zimmer flüchten. Danach hatte sie wieder ein schlechtes Gewissen. Also sagte sie Hallo und schüttete Eamon ihr Herz aus.
»Billie, du darfst dir keinen Vorwurf daraus machen, daß du auch nur ein Mensch bist«, hielt er ihr entgegen. »Du hast getan, was du konntest, sogar noch mehr.«
»Aber es fuchst mich, daß mein Körper mir solche Streiche spielt.« Sie hatte sich übergeben müssen. »Ich komme mir so ohnmächtig vor. Die arme alte Frau.«
»Wie geht es ihr jetzt?«
»Schon besser«, gab sie zu.
»Worüber machst du dir dann
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