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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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die Eifrigste. Wenn Du nicht erscheinst, kommen wir anderen ganz schön ins Schwimmen.«
    Was meinte sie mit ›wir anderen‹?
    Tora hatte sich viel Mühe gegeben. Sie arbeitete für einen Teleshop und wohnte in einem Ziegelhaus aus den dreißiger Jahren, dessen Fachwerkgiebel den Tudor-Stil imitierten. Tora, die noch pummeliger war als früher, öffnete die Tür und fiel Billie weinend um den Hals. Vor lauter Verblüffung kamen Billie auch die Tränen.
    »Tora, du stehst ja jetzt auf Glamour!« rief sie vorwurfsvoll.
    »Man muß mit der Mode gehen«, erwiderte Tora. Sie hatte ihre Wangen mit Glitzerpuder eingestäubt und trug ein weites schwarzes Hemd zu Caprihosen. Verglichen mit ihr kam Billie sich zart und zerbrechlich vor. Tora faßte sie unter und führte sie ins Haus.
    Aus den beiden großen Zimmern im Erdgeschoß hatte man alle Möbel entfernt; dicht an dicht drängten sich dort Frauen. Die Wände waren mit Luftballons und Bildern von Eamon Strafe dekoriert. In einer Ecke hockte ein Gebilde in einem Sessel, das wie eine zähnefletschende, blind vor sich hin grinsende Vogelscheuche aussah. Es war eine lebensgroße Puppe.
    Die Frauen rieben Ballons gegen ihre Schenkel und kicherten übermütig. Die statisch aufgeladenen Ballons hafteten dann an der Tapete. »Oho, Berthe, du stehst ja mächtig unter Strom heute abend!«
    Billie fühlte sich neidisch und überlegen zugleich. Die Frauen sahen allesamt wie Friseusen aus, glücklich und fade. Verglichen mit ihnen empfand sie sich als innerlich zerrissen, mit Kanten und Ecken versehen. Am liebsten wäre sie gleich wieder gegangen.
    Tora stellte sie vor. Die Namen und Gesichter huschten wie in einem Nebel an ihr vorbei. Der eindeutige Mittelpunkt war Tora, sie hielt das Ganze zusammen. »Der Abend gehört uns, Kinder. Ein Partyservice kümmert sich um das Essen, keine braucht hinterher abzuwaschen. Greift zu.« Sie deutete auf einen Tisch, der vollbeladen war mit Garnelen, Salaten und Quiches. Kein Fleisch. »Das ist Gwen. Sie sorgt für unser leibliches Wohl.« Gwen war offensichtlich überfordert. Ein untersetztes, molliges Mädchen in weißem T-Shirt, schwarzer Lederjacke und Motorradstiefeln. Sie schenkte Billie ein Glas Punsch ein.
    »Ich nenne ihn ›Tanamera‹, nach seinem zweiten Album«, erklärte Gwen und fing grundlos an zu kichern. Ihrem breiten Akzent nach stammte sie aus Nordengland. »Er besteht hauptsächlich aus Früchten und traditionellen irischen Kräutern. Ich stelle mir vor, daß unser Eamon so etwas auch gern trinken würde.«
    »Danke. Der Punsch schmeckt sehr gut«, erwiderte Billie lahm. An Parties war sie nicht gewöhnt. Sie merkte, daß sie Gwen nichts zu sagen hatte, deshalb gesellte sie sich wieder zu Tora.
    »Von Eamon habe ich viel gelernt«, dozierte die gerade. »Sogar in meinem Beruf kommt mir das zugute. Er hat ja so recht, wenn er sagt, daß es selbst beim Verkaufen auf das Zuhören ankommt. Wer nicht zuhört, lernt nichts, er kriegt nie die Informationen, die er braucht.«
    »Das ist mir auch schon aufgefallen«, pflichtete eine andere Frau bei. »Zuerst glaubt man, das ganze sei nur hochtrabendes Geschwätz, aber dann stellt man fest, daß es sich auf die Realität anwenden läßt.«
    Eine dritte Frau mischte sich ein. Sie hatte ein ernstes, schmales Gesicht und trug ein Kleid mit Spitzenkrägelchen. »Angenommen, Eamon Strafe hätte vor zweitausend Jahren gelebt. Welche Person wäre er damals wohl gewesen? Denkt mal darüber nach.«
    Johannes der Täufer? Herodes? Pontius Pilatus? »Damals gab’s jedenfalls noch keine Popstars«, meinte Billie. Tora prustete los. »Stimmt«, bekräftigte sie. Wenigstens Tora hatte noch nicht abgehoben. »Hat jede, was sie braucht? Ich glaube, wir sind jetzt vollzählig. Können wir anfangen?«
    »Klar, wenn sich jemand verspätet hat, spielt das doch keine Rolle«, meinte die Frau, die nichts für hochtrabendes Geschwätz übrig hatte.
    Tora stellte sich vor sie hin und klatschte in die Hände. »Hört mal alle her. Schönen Dank, daß ihr gekommen seid und all die Sachen mitgebracht habt. Später wird Eamon dabei sein, aber zuerst wird vorgelesen. Danielle?«
    Die schönste Frau, die Billie je gesehen hatte, stand auf. Herrliches Haar, ein liebliches Gesicht, wundervolle Hände. Sie war Französin und bewegte sich mit abgezirkelten, unenglischen Bewegungen. Ihre Stimme klang jedoch blechern und monoton, außerdem rezitierte sie das Schlechteste, das Eamon Strafe sich je abgerungen hatte. Es

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