Das Jahr der Maus
aber wer singt da? Was ist das für ein Song?«
Tora fühlte sich geschmeichelt. »Der jetzt gerade läuft? Mensch, das ist doch Eamon Strafe.« Als ob jeder außer Billie Bescheid wüßte.
»Find ich toll«, bekannte Billie.
»Recht hast du«, stimmte Tora zu und reichte ihr die CD. Für die Toten im Libanon stand drauf. Das Bild zeigte einen nicht mehr ganz jungen Mann mit einem freundlichen, eigentlich recht hübschen Gesicht.
»Er ist ein Mönch«, erzählte Tora und kicherte. »Ein irischer Mönch. Nächsten Monat kommt sein Album heraus.«
»Das muß ich haben.«
»Tom hier kennt seinen Manager.«
Tom war schon etwas älter und bleckte beim Lächeln seine vorstehenden Zähne. »Er wird’s schaffen, die Industrie steht hinter ihm. Goth ist out, Rave wird langsam öde, und die Leute wollen wieder Stars.«
Billie, die auf Goth stand, hatte kapiert. »Hyper«, meinte sie und gab Tora die CD zurück.
»Sicher, aber die Musik ist auch brillant«, betonte Tora. Billies Freundin Janice saß ihr schweigend gegenüber und machte einen weggetretenen, verlorenen Eindruck. Billie beugte sich zu ihr.
Tora war von der Wirkung, die sie auf Billie hatte, so beeindruckt, daß die beiden Freundinnen wurden und auch Janice nicht ausschlossen. Sie waren die allerersten Fans von Eamon Strafe. Aus der Zeitung erfuhren sie, daß er in einer spätabends im Fernsehen laufenden Musiksendung singen würde. »Wir könnten uns im Halbkreis aufstellen und kreischen«, schlug Tora spaßeshalber vor. Doch als sich die Kamera zum erstenmal auf ihn richtete, verschlug es allen drei Mädchen die Sprache, und sie blickten einander betroffen an.
»Meenschens kind, ist der schön!« hauchte Tora.
Er sah nach nichts aus. Er hatte die schiefe Nase eines Boxers, ein vierschrötiges Kinn und ausladende Schultern; der restliche Körper wirkte eher schmächtig, so daß seine Figur einer Karotte glich.
Sein Gesichtsausdruck war es, der ihm einen engelhaften Zug verlieh, die von Fältchen umkränzten, strahlend blauen Augen. Und dann die berühmten Zähne, die viel zu groß waren. Bei jedem Lächeln dominierten sie, ließen sein Gesicht aufleuchten. Billie fand keinen Geschmack mehr an schwarzer Kleidung. Sie wechselte über zu Weiß, Eamons Farbe.
Billie und Tora taten sich zu einem Bekehrungsfeldzug zusammen. Sie trugen weiße Jacken, weiße lange Hosen und banden sich weiße Kopftücher um wie Nonnenschleier. Sie hockten am Piccadilly Circus und spielten seine Musik auf volle Lautstärke, bis die Polizei sie wegscheuchte. Sie trugen ein Poster mit seinem Konterfei durch die Straßen, skandierten seinen Namen und riefen anderen Passanten zu, auf Fleisch und Alkohol zu verzichten. Mit der Zeit würde der Rest der Welt sich ihnen schon anschließen und Eamon Strafe lieben.
Und tatsächlich kam es dazu, daß sein Stern für eine kurze, herzzerreißende Weile aufging.
Er traf den Nerv der Zeit. Die Zeitungen nannten seinen Stil den ›Neuen Ästhetizismus‹. Ständig druckten sie sein Bild – Die Antithese eines Popstars. Billie fand es herrlich, daß andere Menschen ihre Gefühle teilten. Zwei oder drei Jahre lang befand sie sich im Einklang mit der gängigen Mode. Anscheinend war sie doch kein totaler Außenseiter.
Er war schön, und seine Musik war schön. Irgendwo lebt und atmet dieser Mann, resümierte sie, an irgendeinem Ort in Irland. Egal, wohin sie ging, überall hörte sie ihn singen.
Auf das Album Für die Toten im Libanon folgte Afghanistan, ein noch größerer Erfolg. Er war persönlich dorthin gereist und hatte gesehen, wie gekämpft wurde. Afghanistan führte die Hitlisten an. Dann brachte er einen Gedichtband heraus und eine CD, auf der er die Verse rezitierte, untermalt von dezenter Musik. Jedes halbe Jahr erschien ein neues Album mit Songs. Es gab viel zu kaufen.
Aber nie trat er live auf. Der Markt war mit Videos überschwemmt, doch er ging nicht auf Tournee.
Er hat Hemmungen, dachte Billie, und liebte ihn dafür um so mehr. Eamon verlautbarte, er hielte nichts von Tourneen, es sei eine reine Ausbeuterei. Er schulde den Leuten mehr als eine einstudierte Vorstellung. Am liebsten würde er sich mit jedem einzelnen seiner Fans persönlich unterhalten, doch das sei nicht möglich. Also müßte er neue und bessere Wege gehen, um sie zu erreichen. Billie war sich nicht sicher, was er damit meinte.
Sie schrieb ihm Briefe.
Lieber Eamon,
Du sollst wissen, daß es jemanden gibt, der für Dich
Weitere Kostenlose Bücher