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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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nichts. Gar nichts.«
    Er blickte ihr offen ins Gesicht. »Du besitzt eine Kopie von mir. Was soll ich sonst dazu sagen?« Wenn du dich langweilst, mein Freund, dachte Billie, dann denk mal darüber nach, wie mir zumute ist. Eamon seufzte. »Ich bin wirklich am Meer, weißt du.«
    »Der Computer kann das nur nicht zeigen, weil er das Simulieren von Wellen nicht beherrscht.«
    »Hinter der Landzunge liegt ein Kloster.« Er vollführte eine vage Geste, indem er auf die Küste deutete. »Ich trage mich mit dem Gedanken, wieder ein Mönch zu werden.«
    »Kneifst du, weil deine Berühmtheit dir so zu schaffen macht?« stichelte Billie. »Und ich dachte, in letzter Zeit sei dein Stern gesunken. Für wen singst du eigentlich noch, für die Möwen?«
    »Warum nicht, wenn sie mir zuhören. Die neuen Texte, an denen ich arbeite, befassen sich wieder mit dem Christentum.«
    »Das erzählst du mir nur«, beklagte sich Billie mit schmalen Lippen, »weil deine Programmierer mich dazu verleiten wollen, deine neuen CDs zu kaufen.«
    »Ich rede mit dir darüber, weil ich dachte, du interessierst dich für meine Songs.« Aha, die Kopie kann also auch wütend werden, frohlockte Billie. Sie gibt menschliche Regungen von sich wie eine Babypuppe, die die Windeln naßmacht.
    »Wie geht es Joey?« erkundigte er sich.
    »Ich habe keine Lust, mich über Joey zu unterhalten. Er ist ein verunsichertes kleines Kind, wie seine Mutter. Und daran wird sich auch nichts ändern. Nie wird sich etwas ändern.«
    Er trat einen Schritt vor und setzte sich dann in den Sand. »Ich möchte ihn gern kennenlernen und ein paar Worte mit ihm wechseln.«
    »Du spinnst wohl! Soll er etwa wissen, wie plemplem seine Mutter ist? Hockt den ganzen Tag da und quatscht mit einem Computer!«
    Er blickte zerknirscht drein. »Ich wüßte nur gern, wie er aussieht, das ist alles.«
    »Willst du ihn etwa auch noch süchtig machen? Je jünger, um so beeinflußbarer, was? Das habt ihr euch schön ausgedacht!«
    Eamon stieß einen Seufzer aus. »Hör mal, wenn ich wirklich hier wäre, würde ich mich auch nicht anders verhalten. Ich würde genauso mit dir reden wie die Kopie.«
    »Du weißt ja nicht mal, daß es mich gibt!« brüllte sie.
    Seine Stimme blieb ruhig. »Ich möchte mit so vielen Menschen sprechen, Billie. Aber das geht nicht. Dazu müßte ich mich atomisieren, verflüchtigen wie ein Nebel. Meine Lieder kennst du doch, sie handeln oft von der Seele, nicht wahr? Es ist mir ernst damit, Billie. Glaubst du, daß die Seele etwas Greifbares ist? Daß die Seele nur in einem Körper auftreten kann? Indem ich als Computerprogramm existiere, vergeistige ich mich.« Eamon drückte Daumen und Zeigefinger aufeinander, um anzudeuten, wie winzig er war. »Auf diese Weise erreiche ich mehr Menschen, als es mir im Original überhaupt möglich wäre.«
    Billie funkelte ihn empört an. »Dann zieh dich doch mal aus, wenn du so real bist«, forderte sie ihn auf.
    Er strich sich mit der Hand über die Stirn und wandte den Blick ab. »O Gott, Billie, das ist alles so furchtbar traurig.«
    »Sprich ruhig weiter. Darum geht es doch, nicht wahr? Um einen Ersatz für Sex. Oder enthält das Programm keine Angaben über deinen Pimmel?«
    »Ich dachte, du seist meine Freundin. Jemand, mit dem ich sprechen könnte.«
    »Du existierst gar nicht. Du bist ein Phantasieprodukt.«
    »Sind das nicht alle Sänger? Was wären sie ohne Make-up, die richtige Kameraeinstellung und Ghostwriter? Was kriegen die Kunden, wenn sie eine CD kaufen?«
    Wie merkwürdig, wunderte sich Billie. Man weiß Bescheid und wird doch nicht klüger.
    »Du wirkst so real«, gab sie zu. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und sie konnte nichts mehr sagen.
    Eamon stützte sich auf ein Knie ab. »Ich weiß, daß es mich gibt«, betonte er. »Aber ich bin kein lebendiges Wesen, sondern ein Digitalcode. Ich bin nur eine Kopie. Aber glaub mir, Billie, wenn ich dich so gut kennen würde wie diese Kopie dich kennt …« Er biß sich auf die Unterlippe. »Dann würde ich dich ebenfalls lieben.«
    Der unsichtbare Ozean rauschte, begleitet vom Pfeifen des Windes, irgendwo und nirgends in einem Schlafzimmer in Stratford East.
     
    Tora schickte ihr eine Karte.
     
    Am Samstag, den 25. März, feiern wir Eamon Strafes Geburtstag. Beginn: 20.30 Uhr.
    Ehemänner sind nicht eingeladen.
     
    Beigefügt waren eine Straßenskizze und eine Adresse in Finchley. Auf der Rückseite der Karte stand: »Hab Dich im Telefonbuch gefunden. Du warst immer

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